Teil 16 der Serie Text: Dr. H. Jürgen Kagelmann und Dr. Walter Kiefl
Immer wieder aufs Tapet gebracht werden Stereotypen und Mythen, die über Jahre und Jahrzehnte in der Tourismusbranche verbreitet werden, ohne dass sich jemand wirklich die Mühe macht, objektiv nachzuforschen, wie denn nun die Wirklichkeit aussieht. In dieser Ausgabe gehen die Münchner Tourismus- und Sozialwissenschaftler Dr. H. Jürgen Kagelmann und Dr. Walter Kiefl der Frage auf den Grund, ob mal ordentlich Faulsein der richtige Weg zur Erholung ist.
Mythos: „Mal ordentlich Faulsein ist die richtige Erholung.“
Auf die Frage, was das Wichtigste am bevorstehenden Urlaub ist, erhält man sehr häufig die Antwort: ausspannen, ausschlafen, ausruhen. Mit anderen Worten: nichts tun – und zwar so viel und so lange als möglich. Für Menschen, die unter immer höheren beruflichen Anforderungen leiden, muss das natürlich recht verlockend klingen.
Eine Vorstellung, die – wie wir alle wissen – von der Touristikindustrie beziehungsweise auch den Massenmedien gerne genutzt und genährt wird, indem diese in der Werbung und in den Medien Geschichten und Bilder eines weitgehend sinnfreien Ausruhens als idealen Gegensatz zum stressigen Alltag verbreiten.
| Lizenz zum Faulsein |
Touristen haben sozusagen die Lizenz zum Faulsein. Das scheint nicht unplausibel zu sein: Denn der Urlaubsmythos vom Faulsein stellt eine „paradiesische“ Kompensation für den vielfach gefühlten Stress in Aussicht. Hinzu kommt, dass manche Urlauber darin unbewusst eine Chance zum „Angeben“ sehen: Wer den subjektiven Wert des totalen Ausspannens so betont, gibt damit zu erkennen, dass er normalerweise höchst belastet – und das heißt: sehr wichtig – ist.
Sicher ist es für viele Menschen, besonders wenn sie sich ständig in außergewöhnlichen Belastungssituationen, also „Stress“, befinden, sehr attraktiv, sich mit der Hoffnung auf ein baldiges totales Nichtstun und Abschaltenkönnen zu trösten – und erst einmal durchzuhalten. Das tun viele, aber nicht alle, denn es gibt natürlich große persönlichkeits- und situationsspezifische Unterschiede – was den Wunsch nach Urlaub anbetrifft: Dem Lebensalter, der Konstitution, dem Temperament, dem gesundheitlichen Status, der Reichhaltigkeit der Interessen sowie der kulturellen und familialen Prägung und der konkreten, spezifischen Arbeits- und Lebenssituation kommt definitiv große Bedeutung zu.
Und wenn sich dann die touristischen Menschen (endlich) im Urlaub befinden, erreichen die einen bereits nach kurzer Zeit wieder ihr „normales“ Energie- und Aktivitätsniveau, während andere ein besonders ausgeprägtes Bedürfnis nach langen Ruhezeiten haben. Die Menschen sind verschieden.
Wie lange tut ein totales Ausspannen „gut“? Diese Frage wird seltsamerweise kaum gestellt – die Frage nach der Dauer einer sich überwiegend auf Passivität und einfache Genüsse (am Strand liegen, im Wasser planschen, einkaufen gehen und so weiter) beschränkenden Erholung.
Dabei haben schon viele kluge Leute gewusst, dass unabhängig von interindividuellen Unterschieden zu viel Nichtstun belastend oder schlecht ist: Martin Luther („Gute Tage können wir nicht vertragen“), Johann Wolfgang von Goethe („Alles in der Welt lässt sich ertragen, nur nicht eine Reihe von schönen Tagen“), Sebastian Kneipp („Untätigkeit schwächt, Übung stärkt, Überlastung schadet“), und – wohl am klarsten auf den Urlaub bezogen – William Shakespeare („Wenn das ganze Jahr über Urlaub wäre, wäre das Vergnügen so langweilig wie die Arbeit“) sowie nicht zuletzt Leo Tolstoi („Urlaub ohne Unterlass wäre ein gutes Training für den Aufenthalt in der Hölle“).
| Neue Erkenntnisse |
Nun gibt es Neues zum Thema. In einer kürzlich von den Sozialpsychologen Marissa Sharif, Cassie Mogilner und Hai Hershfeld publizierten US-amerikanischen Untersuchung („Having too little or too much time is linked to lower subjective well-being“) wurde diese alte Erkenntnis wissenschaftlich untermauert. Das Ergebnis der Studie mit 35.375 zufällig ausgewählten Befragten lautet kurz zusammengefasst: Das Wohlbefinden der Menschen wird nicht nur davon beeinträchtigt, wenn sie (nach ihrer eigener Einschätzung) zu wenig freie Zeit, sondern auch wenn sie zu viel davon haben. Dies gilt sowohl für Beruf und Alltag, als auch für Freizeit und Urlaub. Fachlich ausgedrückt, es gibt eine kurvig-lineare Beziehung zwischen der Dauer frei verfügbarer Zeit und dem subjektiven Wohlbefinden: Einfach formuliert, zu wenig Nichtstun macht ebenso Stress wie zu viel.
Entscheidend ist aber auch, dass man etwas Sinnvolles und aktiv tut. Das heißt, dass man nicht nur im Arbeitsbereich, sondern auch in der Freizeit eine „Selbstwirksamkeit“ erfährt. Bloßes passives Konsumieren macht auf Dauer nicht glücklich.
Der Studie von Sharif und Kollegen zufolge ist mit durchschnittlich zwei (!) freien Stunden pro Tag ein Zufriedenheitsplateau erreicht, das sich durch noch mehr sinnfrei verbrachte Freizeit kaum mehr steigern, wohl aber vermindern lässt.
Den ganzen Urlaubstag in der Sonne zu liegen (oder ähnliche Dinge tun), kann leicht zu diffuser Unzufriedenheit führen, zu Missmut, Übellaunigkeit, Lustlosigkeit, nicht selten sogar zu massivem Ärger.
Das sind – neue – Stresserfahrungen; zu viel Nichtstun macht Stress! Der englische Schriftsteller Jerome K. Jerome meinte dazu schon vor rund 100 Jahren kurz und knapp: „Es macht keinen Spaß, nichts zu tun, wenn man nichts zu tun hat.“
Auf Dauer wirklich nichts zu tun (beziehungsweise nichts tun können), erfordert demnach viel Ausdauer, Leidensfähigkeit, Frustrationstoleranz und Kraft. Diese Kraft haben aber die wenigsten Touristen, was die offene und latente Verdrießlichkeit vieler Passiv-Urlauber erklärt, die sich oft in einem konstanten Nörgeln ausdrückt, einer Unzufriedenheit mit anderen und der Welt allgemein. Und wer kennt nicht die lautstark ausgetragenen Konflikte mit Partnern, Kindern, anderen Urlaubern und Hotelangestellten.
Am Ende sind die „schönsten Wochen des Jahres“ nur mehr ein Reinfall, eine Summe von Enttäuschungen – auch wenn viele Rückkehrer dazu neigen, den Urlaub dann zu Hause anderen gegenüber als „gelungen“ und „herrlich“ darzustellen.
Wer dagegen diese Tage und Wochen als Muße-Zeit im eigentlichen Sinne, das heißt produktiv als schöpferische Möglichkeit der Selbstfindung und Selbstverwirklichung nutzt und attraktive, „fordernde“ Anforderungen – zum Beispiel sportlicher, kultureller, künstlerischer, kommunikativer oder intellektueller Art – bewältigt, wird sich später, wenn er wieder zu Hause ist, gerne daran zurückerinnern und deshalb auch in Zukunft solche und vergleichbare Angebote wählen, oder sagen wir besser, diese andere Form des Urlaubmachens vorziehen.
Mindestens ebenso wichtig wie bequeme Liegen und opulente Restaurants am Pool beziehungsweise Strand oder passive Abendunterhaltung sind neue Angebote für neuartige Aktivitäten, deren Bewältigung ein Gefühl der wohligen Zufriedenheit schafft. (Und das muss sich wirklich nicht auf die traditionellen Animationsprogramme beschränken.)
| Fazit |
Potenziellen Gästen zu vermitteln, sie könnten am beworbenen Urlaubsziel beziehungsweise im Hotel „endlich einmal“ durch totales Nichtstun richtig ausspannen, um dann quasi wie von Zauberhand wunderbar erholt, gestärkt und energetisch aufgeladen wieder in die gewohnte Tretmühle zurückzukehren, wird in der Regel nicht funktionieren.
Denn suggeriert wird, eine „Erholung“ sei eine unmittelbare Folge (nur) des Ortes mit all seinen Eigenschaften. Mindestens aber ebenso wichtig, wahrscheinlich sogar noch viel wichtiger, ist den neuen Forschungen gemäß aber die Länge (Dauer) der „unproduktiven“ Erholungsphase und die aktive Einstellung der Menschen. Noch einmal: Wer in seiner Freizeit oder an einem Urlaubsort längere Zeit keine sinnvolle und damit Befriedigung vermittelnde Aufgabe (nennen wir es ruhig „Arbeit“) findet, macht eine neue Stresserfahrung, welche die wohltuenden Effekte zeitweilig verminderter beruflicher Anforderungen mehr als aufhebt.