Teil 15 der Serie Text: Dr. H. Jürgen Kagelmann und Dr. Walter Kiefl
Immer wieder aufs Tapet gebracht werden Stereotypen und Mythen, die über Jahre und Jahrzehnte in der Tourismusbranche verbreitet werden, ohne dass sich jemand wirklich die Mühe macht, objektiv nachzuforschen, wie denn nun die Wirklichkeit aussieht. In dieser Ausgabe gehen die Münchner Tourismus- und Sozialwissenschaftler Dr. H. Jürgen Kagelmann und Dr. Walter Kiefl der Frage auf den Grund, ob die Menschen mehr denn jetzt einen nachhaltigen Tourismus wollen.
Mythos: Die Menschen wollen jetzt einen nachhaltigen Tourismus.
Die Menschen wollen jetzt einen nachhaltigen Tourismus – das sagen viele, aber wollen das auch viele? Die Fakten dazu sind jedenfalls nicht eindeutig. Worum geht es dabei? Einer weltweit durchgeführten repräsentativen Umfrage im Auftrag des Portalbetreibers booking.com zufolge erklärte knapp ein Drittel der Befragten, dass die Corona-Pandemie in ihnen die Überzeugung hatte reifen lassen, in Zukunft nachhaltiger, also umweltschonender zu reisen. Der Anbieter will daraus eine insgesamt positiver gewordene Einstellung zum umweltverträglichen Reisen als unmittelbares Ergebnis der negativen Erfahrungen der Corona- Zeit erkennen. In zahlreichen Beiträgen zur Pandemie wurde darauf hingewiesen, wie notwendig es deshalb jetzt geworden sei, (auch) das Reise-/Urlaubsverhalten nachhaltig auszurichten. Insofern überrascht es nicht, wenn 61 Prozent der von booking.com befragten Reisenden in diesem Sinne geantwortet haben.
Sieht man sich den Untersuchungsbericht aber genauer an, erkennt man, dass es sich dabei nur um einen Durchschnittswert von 30 befragten Ländermärkten handelt: Während in Vietnam und Indien 88 Prozent der Befragten angaben, die Pandemie habe sie veranlasst, bei ihren Reisen mehr auf Nachhaltigkeit zu achten, betrug der entsprechende Wert für die Deutschen – die sich gerne als besonders umweltbewusst sehen – nur 30 Prozent. Lassen wir einmal beiseite, dass ein traditionelles umweltindifferentes Reiseverhalten nicht ursächlich für die Entstehung des Corona-Virus ist, wäre natürlich eine größere Sensibilität der reisenden Massen für die Belange von Nachhaltigkeit und Klimaschutz begrüßenswert – soweit den Lippenbekenntnissen auch ein entsprechendes Handeln folgen würde. Das ist aber fraglich. Bemerkenswerterweise gaben 2021 zwar 64 Prozent der deutschen Reisenden an, im kommenden Jahr in einer nachhaltigen Unterkunft übernachten zu wollen (fünf Jahre vorher betrug der entsprechende Anteil 57 Prozent, sodass man nicht von einem „sensationellen“ Anstieg sprechen kann), doch hatten 52 Prozent der Befragten im Vorjahr keine nachhaltige Unterkunft gebucht und 30 Prozent wussten gar nicht, dass es solche Unterkünfte gibt.
Anscheinend sprechen die Befragten über etwas, das bisher für sie nicht relevant ist, sodass ihre Zustimmung zu positiv bewerteten Schlagworten nicht viel bedeutet. Andere Umfragen bringen ähnlich ernüchternde Resultate. So stehen zum Beispiel den 70 Prozent der Deutschen, die gerne nachhaltiger reisen würden, nur 6,7 Prozent gegenüber, die dies auch tun (Green Travel Transformation 2020).
| Verzicht auf Handtuchwechsel ja – Verzicht aufs Auto nein |
Mehr oder weniger deutliche Unterschiede zwischen Denken/Meinen und Tun beschränken sich natürlich nicht auf die Reisebranche, sondern finden sich immer, wenn es eine Chance zur positiven Selbstdarstellung gibt. So besteht seit jeher und überall eine deutliche Tendenz, bei heiklen Fragen im Sinne der gesellschaftlichen Majoritätsmeinung zu antworten. Man möchte sich nicht gerne als Vertreter von abweichenden oder Minoritätsmeinungen zu erkennen geben, sondern stimmt lieber (bewusst oder unbewusst) dem zu, was gerade als politisch oder gesellschaftlich korrekt gilt. Damit entsteht häufig eine Diskrepanz zwischen der geäußerten Meinung/ Einstellung und dem tatsächlichen Verhalten.
Diese Tendenz zur sozialen Erwünschtheit bei der Beantwortung vorgelegter Fragen kommt vor allem dann zum Tragen, wenn umweltfreundliche Meinungsäußerungen nicht mit spürbaren Konsequenzen für den Befragten verbunden sind. Mit anderen Worten: Die Bereitschaft, umweltfreundlichen Aussagen zuzustimmen, ist umso größer, je unverbindlicher/allgemeiner diese sind beziehungsweise je geringer die „Kosten“ sind. Die Anbieter nachhaltiger Urlaubsarten und Urlaubsaktivitäten sollten sich immer bewusst sein, dass „Öko“- Reisen, wenn sie vom Publikum akzeptiert werden sollen, nicht unbequemer oder umständlicher sein dürfen (kein Autoverzicht), dass sie keine Nachteile und Einschränkungen beinhalten sollten (keine eingeschränkten fleischlosen Buffets), dass sie keine zusätzlichen Aufwände implizieren (keine komplizierten Flugkompensation) und – natürlich – dass sie nicht (wesentlich) mehr kosten dürfen als „normale“ Reisen. Während bescheidene Formen der Nachhaltigkeit – etwa der großmütige Verzicht vieler Gäste auf den täglichen Handtuchwechsel im Hotel – relativ viel Zustimmung erfahren, verzichtet man auf das praktische Auto am Urlaubsort nicht so bereitwillig.
| Moderner Ablasshandel |
Ein klassisches Beispiel ist das Fliegen. Von einem großen Teil der Bevölkerung wird inzwischen akzeptiert, dass Flüge, vor allem bei Kurzstrecken, sehr klimaschädlich sind und nach Möglichkeit vermieden werden sollten, zumal es meist gute umweltfreundliche Alternativen gibt. Bei etwas größeren Entfernungen zum Beispiel zu den Urlaubsgebieten am Mittelmeer sind dagegen Bahn und Bus viel zeitraubender und weniger bequem. Dabei gibt es zwei für den Fluggast „schmerzliche“ Handlungsmöglichkeiten, die beide mit dem Wunsch nach einem sorglosen Dahinschweben in eine paradiesische Urlaubswelt kollidieren: Entweder auf Flüge zu verzichten, oder Kompensationen für das beim Fliegen verursachte CO2 zu zahlen – was als moderne Form des Ablasshandels gesehen werden kann. Die 2019 in den Medien stark beachtete Diskussion um die sogenannte „Flugscham“ hat aber weder das eine noch das andere bewirkt: Weder sind die Flüge in einem relevanten Ausmaß zurückgegangen, noch sind die Reisenden in größerer Zahl (Ausnahme Schweden) auf die Bahn umgestiegen, noch hat es eine bemerkenswerte Zunahme der (freiwilligen) Kompensationsverpflichtungen gegeben. Diese lagen und liegen bei nur 1 bis 2 Prozent der Flüge, was sicher auch damit zusammenhängt, dass dieses „Gutsein- Handeln“ etwas umständlich ist.
| Beim eigenen Geld hört der Spaß auf |
Wenn es um den Geldbeutel geht, treten ethische Aspekte zurück. Dies zeigen Auswertungen repräsentativer deutscher Reiseanalysen. Danach ist die Zahl der tatsächlich unternommenen umweltverträglichen nachhaltigen und fast immer etwas teureren Reisen stabil niedrig geblieben. 2013 etwa gaben gerade 9 Prozent der befragten Reisebüros in Österreich an, dass ihre Kunden konkret nachhaltige Reiseangebote nachgefragt haben – was noch nicht heißt, dass es dann auch entsprechende Buchungen gegeben hat. Es ist immer problematisch, auf Umfragen zu vertrauen. Diese haben ihre Schwächen, die bei anderen methodischen Zugängen, etwa bei der Analyse von Buchungsanfragen von Kunden, sichtbar werden. Dabei kann sich herausstellen, dass es ein mindestens latentes Misstrauen vieler Reiseinteressierten an „umweltfreundlichen“ Angeboten gibt. Sogar booking.com musste 2019 erkennen, dass die Kennzeichnung „Eco-friendly Hotel“ bei Reisenden dazu führte, ein anderes „normales“ Hotel zu buchen.
Das Produktmanagement zeigte sich von diesem Ergebnis höchst überrascht, da entsprechende Umfragen das Gegenteil vermuten ließen. Ein großer Fehler der Auftraggeber der erwähnten Umfragen, aber auch der Medien, die die Ergebnisse häufig simplifiziert verbreiten, ist die Ausblendung der Motivation der Urlauber. Diese gehen nicht in erster Linie auf Reisen, um die Umwelt zu schonen oder die Arbeitsbedingungen der Hotelangestellten zu verbessern, sondern um eine „schöne Zeit“ zu haben. Das Ideal lautet „paradiesische Sorglosigkeit“, nicht „Kümmern“. Entsprechend will man mit ernsten Dingen wie dem Klimawandel zumindest in dieser Auszeit so wenig wie möglich zu tun haben. Die Entscheidungsprozesse für Reisen und Urlaub beinhalten immer eine gute Portion Verdrängung realer Weltprobleme. Wer das nicht versteht, wird sich immer wieder wundern, warum Menschen so vielen guten Dingen zustimmen, sie aber nicht praktizieren.
| Zurück zur Natur, aber alleine |
Nun könnte man einwenden, dass Beobachtungen des Reisegeschehens im Zeitraum 2020/2021 ergeben haben, dass sehr viele Menschen „zurück zur Natur“ wollen. Als Belege dafür gelten Nachfragesteigerungen bei Alpen, Mittelgebirgen und den Nord- und Ostseestränden sowie bei Ferienwohnungen und beim Kauf oder der Miete von Wohnmobilen. Dagegen lässt sich einwenden, dass getroffenen Reiseentscheidungen, die auf den ersten Blick wie Resultate bewusst umweltverträglichen Denkens aussehen, es oft gar nicht sind, weil ihnen andere Motive zugrunde liegen beziehungsweise aus der Not eine Tugend gemacht wird, indem zum Beispiel die geplante, aber pandemiebedingt erschwerte oder entfallene Fernreise mit einer im Trend liegenden Hinwendung zur heimischen Natur kaschiert wird. Das „zurück zur Natur“ lässt sich auch als Ausprägung des aktuellen, Corona-bestimmten Motivs der sozialen Distanz erklären: Der Reisende möchte möglichst wenig andere Menschen („Gefährder“) in der Nähe haben und geht ihnen aus dem Weg, damit sie ihn nicht anstecken können. Es handelt sich also um eine Form individuellen Sicherheitssuchens – im Kern etwas sehr Egoistisches, etwas, das viel stärker ist als der Wunsch und die Verpflichtung, durch nachhaltiges Reisen die Welt vor der Klimakatastrophe zu bewahren. Sind also Nachhaltigkeitsumfragen überhaupt nichts wert? Doch, aber nur ein wenig. Die Umfrage 2021 von booking.com hat gezeigt, dass sich viele Reisende durchaus auf Einschränkungen einlassen könnten, wenn sie nichts kosten würden: Acht von zehn möglichen Reisenden wären bereit, Licht/ Klimaanlage auszuschalten, wenn sie aus dem Zimmer gehen. Das kostet genauso wenig wie der Verzicht auf das täglich gewechselte Handtuch.
Sieben von zehn Befragten würden für ihre Fortbewegung „verstärkt“ Fahrräder nutzen und dafür vermehrt am Urlaubsort auf ihren Pkw verzichten (tatsächlich hat es während der Pandemie einen Boom der Fahrradbranche gegeben), vorausgesetzt neue und qualitativ gute (und möglichst elektrische) Zweiräder sind am Urlaubsort überhaupt und kostenlos vorhanden – was in vielen Hotels ja mittlerweile weitgehend der Fall ist. Auch die in Umfragen erkennbaren Unterschiede des Antwortverhaltens verschiedener sozio-demografischer Zielgruppen kann – ungeachtet der genannten Einschränkungen – insofern Aufschlüsse geben, als sich damit Orientierungen und Trends aufzeigen lassen. So sind Jüngere stärker an Nachhaltigkeit interessiert als Ältere. Einer von der Scandic-Hotelgruppe 2018 durchgeführten Befragung zufolge wollten 40 Prozent der 18- bis 40-jährigen Befragten bei Hotels stark auf Nachhaltigkeit achten. Mit zunehmenden Alter nimmt deren Nachhaltigkeitsdenken allerdings ab. Lediglich 26 Prozent der über 65-Jährigen wollten ihr Hotel aufgrund von Nachhaltigkeitskriterien auswählen. Unterkunftsbetriebe sollten also demnach bei ihren Entscheidungen, nachhaltige Verbesserungen einzurichten, zunächst ihre primären Zielgruppen bedenken.
| Fazit |
Grundsätzlich sollten die Ergebnisse von Umwelt-Befragungen immer kritisch betrachtet und nicht zu hoch gewichtet werden. Aus der geäußerten Bereitschaft, mehr für die Umwelt tun zu wollen, folgt keineswegs automatisch ein entsprechendes umweltorientiertes Reiseverhalten. Das bedeutet nicht, dass etwa Hoteliers darauf verzichten sollten, ihre Angebote klimagerecht etc. zu gestalten. Aber sie dürfen nicht erwarten, dass die Gäste bereit sind, dafür adäquat mehr zu bezahlen. Die Vorstellung, dass es demnächst zu einer deutlichen Steigerung auf umweltoptimierte Unterkünfte kommt – angeblich wollen sich 70 Prozent der Reiselustigen eher für eine Unterkunft entscheiden, wenn dort nachhaltige Maßnahmen umgesetzt worden sind – ist leider zu optimistisch.