Teil 19 der Serie Text: Dr. H. Jürgen Kagelmann und Dr. Walter Kiefl
Immer wieder aufs Tapet gebracht werden Stereotypen und Mythen, die über Jahre und Jahrzehnte in der Tourismusbranche verbreitet werden, ohne dass sich jemand wirklich die Mühe macht, objektiv nachzuforschen, wie denn nun die Wirklichkeit aussieht. In dieser Ausgabe gehen die Münchner Tourismus- und Sozialwissenschaftler Dr. H. Jürgen Kagelmann und Dr. Walter Kiefl der Frage auf den Grund, ob der „Handtuch-Krieg“ an den Pools wieder voll entflammt ist.
Wer sich vor ein paar Monaten über Aktualität und Zukunft des postpandemischen Tourismus informieren wollte, stieß nicht selten auf ein offenbar drängendes Thema, das viele Journalisten und Blogger beschäftigte. Es entstand der Eindruck, dass nicht das mögliche Wiederauftauchen einer neuen aggressiven Coronavirus-Variante, der Krieg in Osteuropa, die Inflation (und damit auch das geringere Freizeitbudget) oder die drohende Energiekrise die wichtigsten Sommerthemen waren, sondern der bereits in früheren Jahren wiederholt beschriebene „Handtuch-Krieg“ an den Hotelpools.
Damit ist gemeint, dass „viele“ (Zahlen darüber gibt es nicht) erholungsuchende Menschen fernab der Heimat die Unsitte pflegen, sich quasi handstreichartig bereits am frühen Morgen eine Liege – strategisch ausgerichtet nach Nähe zum Pool, Sonnenstrahleinfall, Entfernung zur Bar und anderen Kriterien – dadurch zu sichern, dass sie (mindestens) ein Handtuch (für den erfahrenen Handtuchkriegsteilnehmer zusätzlich noch ein paar Bücher, alte Zeitungen, leere Sonnenmilchdosen usw.) auf den vom Hotelpersonal kurz nach Sonnenaufgang aufgestellten Liegen demonstrativ, sichtbar und irgendwie anmaßend und bedrohlich drapieren. Bei dieser Aktion soll es angeblich bereits am frühen Morgen schon zu ernsten Konflikten mit Gleichgesinnten gekommen sein.
Man ist fast geneigt, die Disziplin zu bewundern, mit der – den Berichten zufolge – manche Urlauber jeden Ferientag schon um 5 oder 6 Uhr morgens aufstehen, um ihre Handtücher auszulegen, dabei sogar Auseinandersetzungen in Kauf nehmen und damit deutlich machen, dass Urlaub eben nicht nur Vergnügen bedeutet, sondern auch Selbstüberwindung, Opferbereitschaft, Arbeit und gegebenenfalls auch Kampfbereitschaft.
| Die Situation – Beobachtungen und Relativierungen |
Dass ein gewisser Anteil von Touristen Liegen reserviert, weist darauf hin, dass es sich – aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht – dabei um ein „knappes Gut“ handelt, dessen Erlangung Anstrengungen erfordert. Da die bevorzugten Plätze in der Regel weder käuflich noch vorab zu reservieren sind, sind alternative Strategien erforderlich. So wird häufig ein Repräsentant der interessierten Gruppe (beziehungsweise Paar oder Familie) mit der Erhebung und Durchsetzung des (irgendwann einzulösenden) Nutzungsanspruchs beauftragt, wobei es sich dabei häufig um den physisch eindruckvollsten Repräsentanten handelt.
Mangels vorliegender Studien und Statistiken ist es fraglich, ob es sich beim Handtuch-Krieg überhaupt um ein quantitativ bedeutsames Phänomen handelt. Die wenigen dazu durchgeführten kleinen Untersuchungen sind zum einen nicht repräsentativ und vernachlässigen – soweit sie auf Befragungen beruhen – den Einfluss der „sozialen Erwünschtheit“. Dabei handelt es sich um einen häufig die Ergebnisse verzerrenden Faktor. Im hier interessierenden Fall bedeuten es, dass häufig Hemmungen bestehen, ein praktiziertes, aber (nach Auffassung der Befragten) mehrheitlich missbilligtes Verhalten zuzugeben.
Bei einer im Jahr 2013 durchgeführten l’tur-Umfrage gaben 5 % der befragten deutschen Urlauber an, zu reservieren, während 20 % nicht bereit waren, deshalb sehr früh aufzustehen. Einer Studie von Airbnb zufolge gaben dagegen 16 % der Befragten zu, eine Liege mit ihrem Handtuch reserviert zu haben.
Da das frühe Reservieren von Liegen allgemein als egoistisch und unschicklich gilt, kann man davon ausgehen, dass die Anteile der Liegenreservierer vermutlich höher sind. Möglicherweise gibt es aber auch Befragte, die angeben, eine Liege zu reservieren, ohne dies wirklich zu tun, um sich auf diese Weise als besonders schlau, rational und diszipliniert darzustellen.
Den methodischen Unzulänglichkeiten entsprechend mager sind auch die Ergebnisse solcher Untersuchungen. Man weiß wenig bis nichts über die „Handtuchkrieger“: Handelt es sich bei ihnen eher um jüngere oder ältere Urlauber, um mehr oder weniger reiseerfahrene Gäste, um Nutzer günstiger last minute Angebote oder um „normale“ Pauschalbucher, um Stammgäste usw.? Weitgehend unbekannt ist auch die Häufigkeit, mit der das Phänomen in welchen Ländern oder Destinationen und bei welchen Hotels beziehungsweise Hotelketten auftritt, und so fort.
Dass Meldungen über den „Handtuch-Krieg“ oft am Beginn einer Sommerferienphase auftreten, ist verdächtig und reizt auch weniger kritische Zeitgenossen zu der Vermutung, dass es sich dabei um ein typisches Sommerloch-Phänomen handelt, indem wegen der urlaubsbedingten knappen Belegschaft der unausgelastete journalistische Nachwuchs mit der schwierigkeitsarmen Aufgabe eines „zündenden“ Artikels über ein gesellschaftlich „brisantes“ Thema betraut wird. Dazu genügt ein einfacher Anlass, ein aufgebauschter oder nicht ordentlich recherchierter Einzelfall, der Beschwerdebrief eines empörten Touristen – und manchmal sogar noch weniger.
Entscheidend für die massenmediale Berichterstattung ist häufig auch ein mehr oder weniger latenter chauvinistischer Aspekt. Meist sind es die „anderen“, Menschen aus einem anderen Kulturkreis, wie Engländer, Russen, Italiener und andere, welchen – ungeachtet fehlender Belege – ein egoistisches, freches oder rücksichtsloses Verhalten nachgesagt wird. Mit einer gewissen Häme wurden in den letzten Jahren auch die als kulturlos verschrienen russischen Touristen betrachtet, wobei reichlich Gebrauch von überkommenen Klischees (trinkfreudig, roh, laut usw.) gemacht wurde.
Mit anderen Worten: Die mehr oder weniger allgemein verbreitete Gier nach der frühzeitigen Sicherung der besten Liegestühle am Pool oder am Strand würde ohne einen Bezug auf eine angeblich übergriffige Außengruppe vermutlich keine größere Medienresonanz finden. Ein derartiger Chauvinismus ist keine deutsche Spezifität, sondern auch bei den Angehörigen anderer Nationen zu finden.