Teil 17 der Serie Text: Dr. H. Jürgen Kagelmann und Dr. Walter Kiefl
Immer wieder aufs Tapet gebracht werden Stereotypen und Mythen, die über Jahre und Jahrzehnte in der Tourismusbranche verbreitet werden, ohne dass sich jemand wirklich die Mühe macht, objektiv nachzuforschen, wie denn nun die Wirklichkeit aussieht. In dieser Ausgabe gehen die Münchner Tourismus- und Sozialwissenschaftler Dr. H. Jürgen Kagelmann und Dr. Walter Kiefl der Frage auf den Grund, ob Flugscham zu Flug-Enthaltsamkeit führt.
Mythos: „Flugscham lässt die Flugbuchungen zurückgehen.“
Nein, jedenfalls derzeit nicht. Die Tatsache, dass der Flugverkehr einen Beitrag zur Erderwärmung leistet, ist bekannt und erwiesen; nach neueren Untersuchungen sind es aber „nur“ rund zwei bis drei Prozent der globalen Klimagasemissionen (der Verkehrssektor insgesamt ist für etwa 15 % der weltweiten Klimagasemissionen verantwortlich).
Bis vor einigen Jahren hat das aber offenbar weder Touristen noch Geschäftsreisende sonderlich erregt oder gar von der Benutzung von Flugzeugen abgehalten. Der Flugverkehr nahm – auch aufgrund von Billigfliegern und allgemein sinkender Preise – national und international bis 2020 ständig zu. Viele Fluggesellschaften konnten jedes Jahr einen neuen Rekord verzeichnen. Die danach erfolgten zeitweise dramatischen Rückgänge haben natürlich wenig mit ökologischer Sensibilität zu tun, sondern mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie, wodurch das Thema „Flugscham“ auf einmal völlig in den Hintergrund getreten ist.
| Mit Schamgefühlen arrangiert |
Das Aufkommen der sogenannten „Flugscham“ (zuerst in Schweden, dann bereitwillig von den Massenmedien bei uns übernommen) ist ein interessantes Phänomen. Ebenso, dass sich relativ schnell die Erwähnung dieser speziellen neuen Scham oder – besser – des „Schämens“ wieder verflüchtigt hat. Das hängt damit zusammen, dass Schamgefühle zwar oft mit starkem sozialen Druck verbunden sind, aber meist keine sehr wirksame Methode zur dauerhaften Verhaltensbeeinflussung darstellen. Was bedeutet es daher, wenn sich einer Umfrage vor zwei Jahren zufolge rund 44 % der Deutschen damals geschämt haben, mit dem Flugzeug unterwegs zu sein? Hat sie das vom Fliegen abgehalten? Offensichtlich nicht, denn die Menschen haben immer gelernt, mit Schamgefühlen zu leben und sich mehr oder weniger überzeugende Rationalisierungen, also Ausreden, für das eigene schambesetzte Verhalten zurechtzulegen: „Für mich gibt es keine andere praktikable Möglichkeit, innerhalb einer vorgegebenen Zeit von A nach B zu kommen.“ Oder: „Die für die verschiedenen Verkehrsmittel ermittelten Zahlen weichen teilweise beträchtlich voneinander ab und sind daher unzuverlässig.“ Beliebt ist auch: „Ich zahle eine entsprechende CO2-Kompensation, also darf ich mit gutem Gewissen fliegen.“ Darauf angesprochen finden auch Politiker und sogar Umweltschützer Ausreden, wie „Ich reise ja für einen guten Zweck, ich muss an einer internationalen Klimakonferenz teilnehmen“, oder ähnlich. Der Zweck heiligt also die Mittel.
Die Bereitschaft zur Kompensation hängt auch von einer speziellen Gruppendynamik ab: Zahlen von Schweizer Touristikfirmen zeigen, dass Reisende eher bereit sind, ökologische Entschädigungen zu zahlen, wenn sie im Reisebüro buchen, nicht aber bei Buchungen über das Internet, wo der Anteil der Zahlungswilligen nach wie vor bei lediglich 1 % liegt. Sozialpsychologisch interessant daran ist, dass gefühlter sozialer Druck entsteht, wenn der Reisewillige im Reisebüro ein menschliches Gegenüber hat, dem er vor dem heimischen PC nicht ausgesetzt ist. Wäre die „Flugscham“ wirklich verinnerlicht, würde sich keine derartige Differenz ergeben.
| Ein moderner Ablasshandel |
„Scham“, „sich schämen“ kann bei den Betroffenen zu mehreren und scheinbar gegensätzlichen Strategien führen, die sich auch aktuell feststellen lassen: in sich gehen, bisheriges Verhalten überdenken, Besserung geloben und Buße tun einerseits – das Problem negieren, verharmlosen oder relativieren andererseits.
Mitunter kommt es auch zu einem trotzigen Aufbegehren wie „Ich lasse mir doch nicht vorschreiben, wie ich reisen soll.“ Wie man aus der sozialpsychologischen Forschung weiß, schließen sich diese Reaktionsweisen nicht notwendigerweise aus, das heißt, derselbe Mensch kann – je nach dem aktuellen sozialen Kontext – sowohl in der einen als auch in der anderen Weise reagieren, indem er sich zum Beispiel nicht passende Informationen ausblendet, sich den Einstellungen einer gerade aktuellen Bezugsgruppe anpasst oder sich für mehr oder weniger rational klingende „Auswege“ aus dem schlechten Gewissen entscheidet. Zu Letzterem gehört das Angebot zur Leistung von Kompensationszahlungen. Diese stellen aber nichts anderes als eine säkulare Variante des spätmittelalterlichen Ablasshandels dar, bei dem – ohne echte Reue – die für begangene Sünden im Fegefeuer zu verbringende Zeit durch Geldzuwendungen an die Kirche beträchtlich verkürzt werden konnte. Eine Farce ist auch der moderne Kompensationshandel, solange er auf freiwilliger Basis erfolgt, das heißt, dass wenige umweltsensible Passagiere (derzeit weniger als 4 %) für den großen Rest zahlen.
In Anbetracht eines solchen Ungleichgewichts werden im Laufe der Zeit aber immer weniger der fliegenden ökologischen Gutmenschen einsehen, warum sie auch noch für das reine Gewissen der ignoranten Mehrheit aufkommen sollen, hat man doch auch zu Luthers Zeiten nur für sich selbst und allenfalls für verstorbene Angehörige und Freunde bezahlt, aber nicht für die Menschen, die zu arm oder zu geizig waren, ihren Obolus für sich und ihre Lieben zu entrichten.
| Scham oder Angst? |
Ein von der neueren Forschung herausgestellter Einfluss betrifft die Frage, ob es tatsächlich die Emotion „Scham“ ist, die zur Flug-Enthaltsamkeit führt. Nach Ansicht britischer Psychologen handelt es sich dabei nicht um Scham, sondern um eine allgemeine Klimaangst. Das bedeutet, sich mehr als nur Sorgen wegen des Klimawandels zu machen, sondern ein dadurch hervorgerufenes und sich seelisch und körperlich äußerndes Gefühl des Leides und der existenziellen Bedrohung. Vor allem Jugendliche erleben dadurch Panikattacken, Angstzustände und Depressionen – vor allem, weil die Überzeugung besteht, nichts dagegen unternehmen zu können.
| Bekommt die Bahn den Vorzug? |
Ein möglicher Indikator für Flugscham beziehungsweise allgemein für ein zunehmendes Umweltbewusstsein wird häufig in der vermehrten Zahl von Kundennachfragen hinsichtlich der Klimafreundlichkeit von Flugzeugen und anderen Reiseverkehrsmitteln gesehen. Dazu liegen jedoch nur allgemein gehaltene Beobachtungen wie „Nachfragen von Reisebürokunden nehmen zu“, also „anekdotische Evidenz“ vor. Belastbare Daten, dass Kunden bei ökologisch unbefriedigenden Auskünften dann tat-sächlich auf das am meisten klimaschädliche Verkehrsmittel Flugzeug verzichten, fehlen bisher.
Es gibt bis jetzt nur zwei wenig überzeugende Belege für ein „alternatives Reisen“, also eine stärkere Hinwendung zu Bahnreisen. Zahlen aus der Schweiz weisen zwar auf gewisse Tendenzen, aber nicht auf auffallende Veränderungen hin. Dies kann auf Faktoren wie Netzausbau, neue Verbindungen mit kürzeren Fahrzeiten und Billigangebote einerseits und/oder auf den Wegfall von Flugverbindungen oder die Umständlichkeiten bei der Abfertigung andererseits zurückzuführen sein. Quantitativ bemerkenswerte Zunahmen der Bahnreisen wären nur dann aussagekräftig, wenn der Zusammenhang zwischen sinkenden Werten bei den Flugpassagieren und steigenden Werten bei den Bahnreisenden kausal bewiesen würde (was bisher nicht geschehen ist). Eine bloße Korrelation zwischen zwei Erscheinungen (da eine Abnahme, dort eine Zunahme) sagt nichts über einen Zusammenhang aus. Selbst wenn sich eine wahrnehmbare Verminderung der Anzahl der Flugreisenden feststellen ließe, wäre dies noch kein Beweis für einen direkten Zusammenhang zwischen Flugscham und Flugverzicht, denn:
… andere Faktoren wie Preiserhöhungen, gehäufte Streiks, Unfälle oder Irritationen durch insolvente Fluggesellschaften, neue Flugsteuern und Ärger über zusätzliche Gebühren der Fluggesellschaften, wachsende Unzufriedenheit mit der Qualität der Billigflieger u. v. a. können zu temporären Rückgängen beitragen.
… die entsprechenden Statistiken sind mitunter unpräzise. So soll zum Beispiel in Schweden im ersten Quartal 2019 die Zahl der Flugpassagiere um 5 % (nach anderen Angaben aber um 8 % beziehungsweise um 3,2 %) gesunken sein.
| Fazit |
Für Touristiker besteht aufgrund der wenigen vorliegenden Zahlen beziehungsweise der (noch) weitgehend fehlenden Verhaltenskonsequenz kein Anlass zu panischen Reaktionen. Hohe Zustimmungsraten zur Flugscham geben lediglich die Akzeptanz zu gerade stark propagierten gesellschaftlichen Einstellungen und Werten wieder und haben bestenfalls nur einen schwachen prognostischen Wert. Engagierte Klimakämpfer werden enttäuscht sein, dass ihre Bemühungen bislang so wenig Früchte tragen. Sie müssen lernen, dass sich Verhaltensänderungen weniger über moralische Appelle und die Erzeugung von Scham und schlechtem Gewissen erzielen lassen, als vielmehr über den Geldbeutel.