Immer wieder aufs Tapet gebracht werden Stereotypen und Mythen, die über Jahre und Jahrzehnte in der Tourismusbranche verbreitet werden, ohne dass sich jemand wirklich die Mühe macht, objektiv nachzuforschen, wie denn nun die Wirklichkeit aussieht. In dieser Ausgabe gehen die Münchner Tourismus- und Sozialwissenschaftler Dr. H. Jürgen Kagelmann und Dr. Walter Kiefl der Frage auf den Grund, ob sogenannte Billigflüge wirklich billig sind.
Der Glaube, dass Flugreisen (unglaublich) billig sind, ist stark verbreitet. Wesentlichster Grund dafür ist das Aufkommen der Billigfluglinien mit ihrem Prinzip des „no frills“ (kein Schnickschnack): Das Fliegen soll – vergleichbar dem Straßenbahnfahren – auf das Nötigste reduziert werden. Indem sämtliche Möglichkeiten der Kosteneinsparung genutzt werden, soll Fliegen für jeden bezahlbar sein. Das Flugerlebnis spielt dann allerdings keine Rolle mehr. Es geht um die simple Beförderung von A nach B.
Eine maximal niedrige Kalkulation der Flugtarife erfordert die Nutzung aller denkbaren Möglichkeiten zur Kostensenkung: vor allem Nutzung kleinerer Flughäfen zur Verringerung von Start/Landegebühren, kurze Abfertigungszeiten, hohe tägliche Nutzzeit der Flugzeuge, mehr Sitzreihen zulasten der Beinfreiheit, hohe Sitzauslastung, geringe Zahl verwendeter Flugzeugtypen, Subventionen durch Kommunen der genutzten Flughäfen etc.
Um eine möglichst hohe Auslastung zu erreichen, übernahmen die Fluggesellschaften ein Prinzip, das in anderen gesellschaftlichen Bereichen bereits seine Effizienz bewiesen hatte, die dynamische Preisgestaltung. Damit entstand eine neue psychologische Situation: Suggeriert wird, für einen Appel und ein Ei fliegen zu können.
| Buchung unter Stress |
Im Glauben an die allenthalben betonten Fortschritte der Digitalisierung und an die propagierten Ziele schnelleren, einfacheren und bequemeren Buchens ist seitdem ein großer Teil der Konsumenten von Flugangeboten der Überzeugung, allein durch geschicktes Buchungsverhalten zu besonders günstigen Flügen zu gelangen. Unterschlagen wird dabei, dass dies viel zeitraubende häusliche Eigenarbeit voraussetzt und dass es dadurch immer wieder zu Stress kommt: Man wird dazu gedrängt, sich schnell zu entscheiden, zum Beispiel weil sich die Preise stündlich ändern können – und besonders weil die zu bewältigenden Informationsmengen immer größer werden. Im Stress der Buchungssituation wird meist auch nicht realisiert, dass der günstigste Preis („Basic Tarif“) sehr restriktive Bedingungen beinhaltet – Gepäckbegrenzungen, keine Service- und Verpflegungsleistungen und die Zuweisung schlechter beziehungsweise besonders unbeliebter Plätze.
Die Billigflieger hatten anfangs kein großes Interesse am Anbieten von extra zu bezahlenden Zusatzleistungen, weil sie als betriebswirtschaftlich eher störend begriffen wurden. Wichtiger war es, neue datenbasierte Buchungssysteme anzuwenden, um die Flugzeuge möglichst voll zu bekommen und einen möglichst hohen Gewinn zu erwirtschaften. In den vergangenen Jahren ist es aber zu einer interessanten Verschiebung der Unternehmensphilosophie gekommen. Billig-Airlines und „Billigtöchter“ der großen Gesellschaften haben erkannt, dass sich mit Extra- oder Zusatzleistungen (den sogenannten ancilleries) ordentlich Geld machen lässt: Wichtigste Geldbringer sind unter anderen die Wahl des Sitzplatzes (premium seat selection), das Zusammensitzen mit Begleitpersonen, vorrangiges Einsteigen (priority boarding), vorab buchbare (Wunsch-)Essen, Getränke, upgraded WiFI, die Benutzung der Airline-Lounges sowie extra Gebühren für zusätzliche Gepäckstücke (additional baggage fee), daneben aber auch Einkünfte durch die Vermittlung von (Reise-)Versicherungen, Mietwagen, Hotels und Reisen und die Ausgabe von Debit-/Kreditkarten.
Während solche Posten in früheren Jahrzehnten nur ein einfaches Add-on zum Ticketpreis waren und wenig zum Gewinn beitrugen, ist ihre Bedeutung spätestens seit der Jahrtausendwende enorm gewachsen. 2022 erreichten die Umsätze des Zusatzkostenbereiches ein historisches Hoch und machten durchschnittlich 15 % der Fluglinien-Umsätze aus; bei einigen „Billigen“ sogar um die 40 %. Sogar traditionelle Gesellschaften wie Lufthansa oder Air France-KLM erzielen mit ancilleries 8-9 % Umsatzanteil, dies alles mit dem Prinzip des „unbundling“: „Klassische“ Bestandteile des Flugreiseprozesses werden abgespalteten und einzeln zusätzlich angeboten. Das ist ein regelrechter Paradigmenwechsel im Fluggeschäft.
| Die Zahlen sind beeindruckend |
IdeaWorks, größte Fachberatungsfirma, schätzt die Umsätze für Airline Ancillary für 2023 auf rund 118 Milliarden US-Dollar global (ungefähr der Wert des Bruttoinlandsproduktes von Ecuador oder Äthiopien). Michael Cunningham, Senior Vice President of Distribution bei CarTrawler, bemerkte etwa dazu: „Die Zusatzumsätze steigen immer weiter und sind inzwischen ein unverzichtbarer Bestandteil im Umsatzmix aller Fluggesellschaften. Die erfolgreichsten Fluggesellschaften sind heute Experten für Reiseservices und bieten auch Buchungen für Hotels, Sehenswürdigkeiten und natürlich Bodentransportlösungen an.“
Analysten erwarten bis 2030 eine weitere Zunahme von 13-19 % – vorausgesetzt, die Kunden, die lange Jahre nur auf den günstigen Ticketpreis geschielt haben, machen beim neuen À-la-carte-System von angebotenen Zusatz- und Sonderleistungen auch mit und lassen sich die Dinge, auf die sie persönlich Wert legen, etwas kosten. Das tun offenbar immer mehr Bucher. So kommt es zu der schon absurden Situation, dass einerseits auf die günstigste mögliche Ticketversion abgezielt wird, wofür beträchtliche immaterielle Kosten in Kauf genommen werden, andererseits bereitwillig Geld ausgegeben wird für Leistungen beziehungsweise Konsumgegenstände, die bei gründlichem Nachdenken abgelehnt würden, weil sie überflüssig oder unsinnig sind.
Zu dem bemerkenswerten Wandel haben besonders die Pandemiejahre beigetragen. Die Sitzplatz(aus)wahl („seat selection“) hat in dieser Zeit große Bedeutung erlangt. Virologen gaben Empfehlungen zu den geeignetsten Sitzplätzen ab (zum Beispiel lieber Fenster als Gang), um der Ausbreitung von Viren im geschlossenen Flugzeugraum entgehen zu können. Damals wurde der Wunsch nach sozialer Distanz zu einem lebenswichtigen Bedürfnis vieler Passagiere. Ein darauf abgestimmtes Angebot, das sich bis heute hält, ist der buchbare freie Mittelplatz – eine technisch gesehen, geradezu genial simple und dabei ertragreiche Zusatzleistung der Anbieter.
Passagiere haben laut einer IATA-Studie besonders den Wunsch nach „booking flexibility“, der Möglichkeit, nach Lust und Laune umzubuchen, was in früheren Zeiten unproblematisch war, jetzt aber nur durch hohe Zusatzkosten auf den billigen „nackten“ Tarif oder Neubuchungen erreicht werden kann. Auch dieses Motiv spielte in der Coronazeit eine wichtige Rolle. Untersuchungen zufolge sind Reiseversicherungen, die Umbuchungen erlauben, heute besonders nachgefragte Zusatzleistungen.
Fantasievolle Zusatzleistungen eröffneten den Fluggesellschaften die Möglichkeiten, einen Teil der über die Coronajahre eingefahrenen Verluste zu kompensieren.
Offenbar hat sich in der Bevölkerung auch die Tendenz verstärkt, überhaupt mehr für Flugreisen ausgeben zu wollen. Dem „Skyscanner Horizons 2023-2024-Report“ zufolge wollen global 76 % Befragten mehr oder gleichviel und nur 14 % weniger als im Vorjahr aufwenden. 29 % wollen mehr für gutes Essen, 26 % mehr für Extragepäck berappen. Dies und auch die Nachfrage nach etwas mehr Komfort und Luxus kann interpretiert werden als Bedürfnis der Passagiere, einerseits die als einschränkend empfundene Coronazeit zu vergessen und andererseits die jahrelang fortschreitende „Verärmlichung“ in den low fare-organisierten Flugabläufen zu beenden.
22 % der Befragten zeigten sich entschlossen, mehr für die Benutzung der (normalerweise I. Klasse-Passagieren vorbehaltenen) Airport Lounges locker zu machen. Kein kleines Geschäft, denn DELTA schaffte mit seinen „Sky clubs“ allein einen zusätzlichen Umsatz von über einer Dreiviertelmilliarde im letzten Jahr. Deshalb werden überall auf den Flughäfen neue Lounges eingerichtet.
Die Reise-„lustigen“, die ja eigentlich auf ihren Geldbeutel achten wollten, übersehen, dass sie nach wie vor Kosten haben, sogar große und mehr Kosten sowohl finanzieller als auch nicht-finanzieller Art:
| 1. Zeitkosten |
Im Zeitalter der dynamischen Preisgestaltung brauchen Buchende, erst recht Wenigflieger, viel Zeit, um sich im Gestrüpp der Angebote und Optionen, Vorschriften und Regelungen zurechtzufinden. Das sind Zeitkosten, die zum notwendigen stunden- oder tagelangen Auswahlprozess für ein möglichst billiges Grundticket hinzukommen. All das hat wenig mit dem propagierten „bequemen“, „sorglosen“ Flug ins Ferienparadies zu tun – eben ein Mythos.
| 2. Stress-„kosten“ (psychologische Zusatzkosten) |
Je mehr Angebote es gibt, um so mehr wird das Fliegen komplexer, komplizierter, anstrengender, zeitraubender – obwohl die Digitalisierungsbranche ja versprochen hatte, dass alles viel einfacher und „bequemer“ erledigt werden könne. Das Gegenteil ist der Fall. Eine neue Angst ist entstanden, das Falsche, zu Teure angeklickt – und sich damit auch als ungeschickt erwiesen zu haben.
In einschlägigen Medien werden „smarte“ Tipps gegeben, wie man den Extragebühren – vor allem nach Billigzielen – ausweichen kann: dadurch, dass man Kleidung doppelt und dreifach übereinander anzieht, wenn man ins Flugzeug steigt, um so auf Kofferstücke verzichten zu können, die eigentlich aufgegeben werden sollten. Das sind keine ernsthaften „Schnäppchenideen“, sondern eher Ausdruck zunehmender Hilflosigkeit der Passagiere angesichts der psychologisch cleveren Strategien der Carriers. Denn diese machen sich die Angebote neuer touristischer Dienstleister zunutze, die mit den Mitteln der künstlichen Intelligenz auf die Persönlichkeit des Buchenden abgestimmte Angebote bereitstellen.
Eine besondere Stressquelle: Immer restriktiver werden die Passagiere angehalten, sich mit hochdifferenzierten Vorschriften zu befassen, etwa ihr Handgepäck penibel darauf abzumessen, ob es den Bestimmungen der jeweiligen Fluggesellschaft entspricht – die sich laufend ändern und von Carrier zu Carrier abweichen. Falls das Handgepäck die vorgeschriebenen Größen- und Gewichtsbeschränkungen überschreitet, wird es aufgegeben und an Ort und Stelle ein Aufpreis verlangt, eine Art „erhöhtes zusätzliches Beförderungsentgelt“. Gegen solche von ihm nicht einkalkulierten Zusatzkosten von 70,- Euro hat sich im Juni 2024 am Flughafen von Palma de Mallorca ein darüber verärgerter junger Mann auf publikumswirksame Weise gewehrt, indem er bei seinem etwas zu großen Rollkoffer die Räder abgerissen hat.
| 3. Finanzielle Zusatzkosten |
Immer mehr früher kostenlose Leistungen werden kostenpflichtig. Schon geht der Trend zur Abschaffung des kostenlosen Handgepäcks in den Gepäckablagen für den Basistarif; erlaubt ist dann nur noch pro fliegende Person eine kleine Tasche, die unter den Sitz passen muss; alles andere ist zu bezahlen. Das hat auch seinen ökonomischen Sinn, schließlich erreichen die Zusatzeinnahmen alleine für Gepäckgebühren bei den 20 größten Gesellschaften geschätzte 33 Milliarden Dollar (mehr als Länder wie Simbabwe oder Honduras erwirtschaften).
Fluggesellschaften sind ständig dabei, die einträglichen Arten der Zusatzkosten um alle möglichen Varianten zu erweitern: Als Ryanair vor anderthalb Jahren laut darüber nachdachte, die Benutzung der Flugzeugtoiletten nur noch gegen Gebühr zu gestatten, war das kein schlechter Scherz, sondern ein Probeballon, der aufzeigte, wohin die Entwicklung gehen soll. Genau wie das Anfang des Jahres angekündigte Vorhaben von Finnair, die Passagiere mitsamt dem Handgepäck wiegen zu wollen.
| 4. „Datenkosten“ |
Passagiere geben durch die ausgewählten Zusatzleistungen mehr und mehr persönliche Daten preis, über ihre Vorlieben und Gewohnheiten, Bezahlpräferenzen etc., die für verschiedenste Marketingzwecke der Firmen verwendet werden können. Darüber denken die „Füchse“ beim Buchen kaum nach.
| Fazit |
Die von vielen Anbietern propagierte Idee, Fliegen sei heutzutage sehr billig geworden, ist ein Mythos. Ganz im Gegenteil wird Fliegen immer teurer, wenn man alle damit verbundenen Auflagen und Einschränkungen miteinkalkuliert.