Teil 27 der Serie Text: Dr. H. Jürgen Kagelmann und Dr. Walter Kiefl
Alljährlich suchen unzählige leidende Menschen Wallfahrts- oder Gnadenorte auf, um dort um Linderung oder Heilung zu beten. Das wohl bekannteste dieser Ziele ist Lourdes im Südwesten von Frankreich, das jährlich von mehreren Tausend Pilgern, darunter rund 50.000 Schwerkranken, aufgesucht wird, die häufig schon seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten leiden und von ihren Ärzten aufgegeben wurden. Weitere derartige Gnadenstätten sind beispielsweise Fatima (Portugal), Santiago de Compostela (Spanien), Tschenstochau (Polen), Loreto (Italien) und Altötting (Deutschland).
Mythos: Wunderheilungen kommen überproportional häufig an Wallfahrts- und Gnadenorten vor.
Berichte von Wunderheilungen lassen viele Leidende hoffen, so dass sie die mit einer solchen Reise verbundenen Strapazen – oft auch gegen den Rat wohlmeinender Angehöriger, Freunde und Ärzte – auf sich nehmen. Vorliegende Zahlen über Heilungserfolge sind jedoch bei genauerer Betrachtung wenig ermutigend. Seitdem die Gottesmutter Maria einem 14-jährigen Bauernmädchen vor nunmehr 168 Jahren in einer Grotte in Lourdes erschienen sein soll, sind dort angeblich etwa 30.000 Heilungen (durchschnittlich rund 180 pro Jahr) vorgekommen, wovon aber nur rund 6000, also 20 % dokumentiert sind; etwa ein Drittel davon gilt als „medizinisch unerklärlich“. Nur 69 der dokumentierten Fälle, also 1,2 % (beziehungsweise 3,5 % der „medizinisch ungeklärten“) sind von der katholischen Kirche bisher als Wunder anerkannt worden. Besondere Häufungen solcher Wunder gab es in den Jahren 1900 und 1950. Auch für Fatima sind nur 17 „Wunder“ dokumentiert. Da die Anforderungen der Kommission zur Anerkennung einer Heilung als Wunder zwischenzeitlich noch restriktiver geworden sind, wird in neuerer Zeit kaum noch von Wunderheilungen berichtet.
Seit 2006 werden Fälle angeblicher Wunderheilungen einem mehrstufigen Prüfungsverfahren unterzogen. Zunächst wird durch ein internationales Ärztekomitee anhand der Krankengeschichte ermittelt, ob es sich um eine „unerwartete“ Heilung handelt. Gilt diese in einem weiteren Schritt als „bestätigt“, wird die Heilung in einem dritten Schritt vom zuständigen Ortsbischof als „außergewöhnlich“, das heißt als Wunder anerkannt. Seit der letzten anerkannten Wunderheilung sind inzwischen sechs Jahre vergangen. Derzeit wird der Bericht einer stark sehbehinderten Frau aus Madrid geprüft, die ihr Augenlicht nach dem Trinken aus einer dortigen Quelle wiedererlangt haben soll.
Insgesamt besteht heute gegenüber Wundern und Wunderheilungen eine eher kritische Einstellung. Auch aus katholisch-theologischer Sicht wird eingeräumt, dass es keinen objektiven Beweis für das tatsächliche Ereignis eines Wunders gibt: „Offizielle Anerkennungen eines Wunders können nur bedeuten, dass der das Wunder anerkennenden Instanz Kriterien zur ‚natürlichen‘ Erklärung eines Vorkommnisses fehlen“ (Neues theologisches Wörterbuch; Freiburg: Herder 2000, S. 691). Versteht man also ein Wunder als einen sinnlich wahrnehmbaren, die bisher bekannten Naturgesetze durchbrechenden Vorgang, so lassen sich wiederholt Fälle von Wunderheilungen anführen. Dabei stehen Krebserkrankungen im Vordergrund des Interesses. In den meisten derartigen Fällen handelt es sich jedoch um keine Heilung im eigentlichen Sinne, sondern nur um eine – wenn auch viele Jahre anhaltende – Rückbildung (Remission) von Krebszellen; eine Heilung liegt nur dann vor, wenn auch die letzte Krebszelle im Körper abgetötet wurde. Einen solchen bislang noch ungeklärten Vorgang auf das Wirken einer „höheren“ spirituellen Macht zurückzuführen mag Trost und Hoffnung spenden, ist aber noch keine Erklärung, sondern nur eine Umschreibung für derzeitiges Unwissen.
Auch wenn ein Großteil der Remissionen und Heilungen nicht weiter verifiziert werden kann (ungenaue oder fehlende Angaben und Zeugen), bleiben doch gut dokumentierte Fälle der Rückbildung bösartiger Tumore übrig, die sich bisher einer schlüssigen Erklärung entziehen. Als gesichert gilt zwar, dass bestimmte Verhaltensweisen (zum Beispiel ausreichende Bewegung, Vermeidung von Stress, Nikotin, Alkohol, übermäßigem Fleischkonsum) und Persönlichkeitsmerkmale (unter anderem optimistische Grundeinstellung, aber auch eine ausgeprägte religiöse Orientierung) eine Rolle spielen, doch gibt es beim aktuellen Wissensstand noch keine Empfehlungen zur Förderung einer Spontanremission.
| Fazit |
Eine nüchterne Betrachtung legt nahe, dass man bei sogenannten Wunderheilungen a) eher von Spontan- als von Wunderheilungen beziehungsweise Remissionen sprechen sollte und b) dass die Quote von Spontanheilungen an Gnadenorten nicht statistisch signifikant höher ist als die von Spontanheilungen, welchen keine derartige oft anstrengende Reise vorangegangen ist. Die Fortschritte in der Medizin sind die besten Argumente dafür, dass die zu einem bestimmten Zeitpunkt erkannten und verstandenen Zusammenhänge immer nur eine Teilmenge aller sich auf Gesundheit beziehungsweise Heilung beziehenden naturgesetzlichen Vorgänge darstellen. Für Patienten aus dem Mittelalter dürften viele der derzeitigen Heilungserfolge „Wundern“ gleichkommen. Dass das Bemühen um eine gesunde Lebensführung, positives Denken, Gelassenheit, Vertrauen und andere Haltungen, die mit einer religiösen Grundeinstellung korrelieren, die Chancen auf Heilung verbessern, steht außer Frage – aber ob es dabei der teils anstrengenden Reise zu einem „Gnadenort“ bedarf ist bislang nicht nachzuweisen.
Mythos: Nordkorea als kommendes Reiseziel.
Seit einigen Monaten häufen sich Artikel über die Chancen, Nordkorea als touristische Destination zu vermarkten. Dies mag verwundern, denn schließlich gilt das Land – besonders seit der Coronapandemie von 2020 – als hermetisch abgeschlossen und international weitgehend isoliert. Aber schon lange vorher, seit dem Ende des Korea-Krieges und der Teilung, hat sich das totalitäre Regime von Nordkorea darum bemüht, Kontakte mit allem Fremden zu vermeiden oder zumindest stark einzuschränken und zu kontrollieren. Dessen ungeachtet haben westliche Touristen schon länger die Möglichkeit, über China nach Nordkorea einzureisen (es gibt keine Direktflüge), wenn auch unter ziemlich restriktiven Auflagen. Dazu gehören die intensive Beobachtung durch einheimische Politkader, streng festgelegte Besuchspläne mit einem rudimentären Angebot an ausgewählten „Attraktionen“ und die Befolgung bestimmter landestypischer Rituale wie zum Beispiel der Besuch der den bisher verblichenen Diktatoren geweihten Gedenkstätten. Zwanglose und spontane touristische Begegnungen zwischen Besuchern und Einheimischen sind dagegen nach wie vor nicht erwünscht. Sofern Kontakte im Rahmen propagandistisch gewollter Programme stattfinden, wird seitens der staatlichen Tourismusorganisation stets darauf geachtet, dass die nur in Gruppen und von einheimischen Reiseleitern geführten und auf die nordöstliche Provinz Gosan und auf die Hauptstadt Pjöngjang beschränkten Reisenden nur Ausgewähltes wie zum Beispiel landwirtschaftliche Musterbetriebe oder moderne Textilfabriken zu sehen bekommen, unter ständiger Aufsicht stehen und sich weder beliebig im Land bewegen noch unkontrolliert Kontakte aufnehmen können.
Dieses für den Umgang mit Fremden geltende Grundprinzip autokratisch regierter Länder scheint in Nordkorea bis zur Perfektion entwickelt zu sein. Dahinter steht – offiziell – der Wille, die eigene Bevölkerung vor schädlichen Einflüssen aus den mehr oder weniger als Feindstaaten betrachteten Ländern zu bewahren beziehungsweise – inoffiziell – die Absicht, das Regime vor befürchteten sie kritisierenden und zersetzenden Ideen und Einflüssen von außerhalb zu schützen. Von der übrigen Welt weitgehend abgeschotteten Menschen kann man leicht vermitteln, dass es sich nirgendwo so gut wie im eigenen Land unter der Herrschaft einer wohlwollenden Partei und ihrer tüchtigen und weitblickenden Führer leben lässt.

Das Regime von Kim Jong-un, dem seit 2011 herrschenden Enkel des Staatsgründers Kim Il-sung (1948-1994), steht vor einem Dilemma, indem es weiterhin dem Tourismus misstraut, andererseits aber infolge der weitgehenden politischen und wirtschaftlichen Isolierung die durch ihn ins Land gespülten Devisen braucht. Nachdem der Diktator in der letzten Zeit einige von Beobachtern als Zeichen einer Öffnung interpretierte Maßnahmen und Vorhaben angekündigt hat, hoffen manche Touristiker auf eine Belebung des Reiseverkehrs. Dazu gehört zum Beispiel die Eröffnung eines Themenparks, eines Wasserparks oder eines Skiresorts. Sowohl bei den geplanten als auch bei den bereits realisierten Vorhaben wie dem im Juni dieses Jahres an der Ostküste eröffneten Beach Resort Wonsan-Kalma mit einem großem Einkaufszentrum und einer riesigen, als sehr umweltfreundlich angepriesenen Hotelanlagen für bis zu 100.000 Gästen dürfte es sich wohl in erster Linie um Propaganda-Instrumente handeln. Neben der Beeindruckung des eigenen Volkes dient diese gigantische Anlage wohl auch zur Pflege und Vertiefung der „freundschaftlichen“ Beziehungen zu China (von wo aus die meisten Touristen – über 300.000 jährlich – nach Nordkorea kommen) und neuerdings auch zu Russland. Ob sich die damit verbundenen hohen Erwartungen erfüllen, bleibt jedoch zweifelhaft, da die Anzahl russischer Gäste bislang noch sehr überschaubar ist. Um das zu ändern, ist sogar die Aufnahme einer Fährverbindung zwischen Wladiwostok und Wosan geplant.
Überoptimistische Touristiker, die mehr westliche Besucher nach Nordkorea bringen wollen, sehen in solchen Vorhaben sowie in entsprechenden Äußerungen des Diktators Kim Jong-un eine Chance, besonders wenn sie schnell reagieren und als erste entsprechende Reisen anbieten. Dies setzt allerdings einen besonderen, quantitativ wohl aber nicht so häufigen Urlaubertyp voraus, der gerade das sucht, was die Mehrheit eher vermeiden will, nämlich befremdliche dissonante Eindrücke bis hin zu realen Erschwernissen, Risiken und Gefahren.
| Gruseltouristen und „Missionare“ als Zielgruppe? |
Angesichts der restriktiven und jederzeit verändernden Einreisebestimmungen, der Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für Touristen, des fehlenden konsularischen Schutzes, zum Beispiel bei Unfällen oder Verhaftungen (weshalb das Auswärtige Amt Deutschlands von Reisen nach Nordkorea abrät), einer fragwürdigen medizinischen Versorgung im Krankheitsfall, eines fehlenden zugänglichen Internets und der desolaten Zustände im Land (Armut, Hungersnöte, marode Infrastruktur, despotisches Regime) – stellt sich die Frage, was Touristen vor allem aus Europa und Nordamerika dazu veranlassen könnte, gerade Nordkorea aufzusuchen.
Manche Gründe decken sich mit den Motiven für den sogenannten „schwarzen“, „Grusel-“ oder „Katastrophentourismus“, der auf der Lust an Begegnungen mit Bedrohlich-Außergwöhnlichem beziehungsweise dem Erlebnis der „Dissonanz zwischen Werten“ beruht. Eine Reise nach Nordkorea trägt in mehrfacher Weise dazu bei durch den erwarteten beziehungsweise wahrgenommenen Reiz des Unbekannten, Sensationellen, Geheimnisvollen und Gefährlichen. In dieser (neben dem Vatikan) weltweit einzigen absolutistischen „Monarchie“ (wenn man diese Bezeichnung auch nicht verwenden darf) ist mehr fremd, ungewöhnlich, gewöhnungsbedürftig, anstrengend, abenteuerlich – und mitunter auch abstoßend – als in den meisten anderen Ländern der Welt.
Selbst völlig banale Handlungen – zum Beispiel das Verlassen der Reisegruppe oder der Versuch eines harmlosen Gesprächs mit Passanten – können unangenehme Konsequenzen haben, sofern es nicht gelingt, die staatlichen Aufpasser zu täuschen. Solche „Abenteuer“ – besser: Provokationen oder Spiele mit dem Feuer üben auf manche Menschen eine Faszination aus.
Hinzu kommt, dass eine Reise nach Nordkorea „Authentizität“ suggeriert und eine Chance zur Profilierung bietet: Das weitgehend isolierte, despotisch regierte, von Hungersnöten und wirtschaftlicher Stagnation heimgesuchte, aber zugleich über Atomwaffen, eine starke Armee und einen gut ausgerüsteten Geheimdienst verfügende Land hat weltweit ein schlechtes Image. Wer dorthin reist und damit einige Zeit zurechtkommt, scheut weder Tod noch Teufel – so vermutlich das (erstrebte) Selbstbild mancher Nordkorea-Touristen.
Da die Zahl der einreisenden Besucher überschaubar ist (auch aufgrund der damit verbundenen hohen Kosten), verleiht eine Reise dorthin in der eigenen Bezugsgruppe, das heißt bei Gleichgesinnten, ein besonderes Prestige. Man kann sich dadurch nicht nur als besonders abenteuerlustig, risikofreudig, mutig, aufgeschlossen und vorurteilsfrei fühlen und darstellen, sondern auch als Pionier und Mitglied eines exklusiven Kreises. Wer Nordkorea mit all seinen Schattenseiten Widersprüchen und potenziellen Gefahren aufsucht, kann sich eher in der Tradition eines „echten“ Reisenden aus dem 19. Jahrhundert sehen als ein „Durchschnittsurlauber“, der nur nach Thailand oder auf die Malediven fliegt.
Simon Cockerell, Geschäftsführer der chinesischen Agentur Koryo Tours, eines Unternehmens, das seit 30 Jahren von Peking aus mehrere 10.000 Touristen hauptsächlich aus Großbritannien, Australien und Deutschland nach Nordkorea gebracht hat, räumt deshalb zu Recht und wohl auch mit Blick auf seine Zielgruppe ein, dass das Land immer noch eine besondere Herausforderung sei und bleibe – und damit wohl auch eine Art „Alleinstellungsmerkmal“ aufweise.
Bei manchen naiven oder sich als Missionare verstehenden Besuchern mag auch die irrwitzige, auf Überschätzung ihrer eigenen Bedeutung beruhende Vorstellung eine Rolle spielen, dort „etwas ausrichten“ zu können, etwa in Gesprächen die Bevölkerung oder sogar hochrangige Parteimitglieder von Vorzügen westlicher Demokratien zu überzeugen. Wie gefährlich so etwas in einem totalitären System nicht nur für den selbst ernannten Missionar, sondern auch für seine zufälligen Kontaktpersonen sein kann, bedarf keiner weiteren Erörterung.
| Fazit |
Der Optimismus mancher Touristiker bezüglich der weiteren Entwicklung der Besucherzahlen für Nordkorea ist schwer nachvollziehbar. In den vergangenen 30 Jahren, in welchen Reisen dorthin möglich waren, hat sich keine nennenswerte Anzahl westlicher Touristen dorthin verlaufen. Schon die zahlreichen (nicht nur) für Touristen geltenden Beschränkungen und Auflagen haben abschreckend gewirkt. Daran würde wohl auch deren (schwer vorstellbare) Aufhebung oder Milderung nicht viel ändern.
Könnte man sich ein ungeschminktes Bild von den tatsächlichen Verhältnissen im Land machen, vom Elend insbesondere der ländlichen Bevölkerung, den Straflagern, der überall herrschenden Armut oder der Allmacht der Partei und deren Repräsentanten, wäre das keine Werbung für das Land, das auf der von der Universität Würzburg herausgegebenen Demokratiematrix nur den 176. Rang (von 179) einnimmt; nur Myanmar, Afghanistan und Eritrea sind noch schlechter platziert.



