Teil 22 der Serie Text: Dr. H. Jürgen Kagelmann und Dr. Walter Kiefl
Immer wieder aufs Tapet gebracht werden Stereotypen und Mythen, die über Jahre und Jahrzehnte in der Tourismusbranche verbreitet werden, ohne dass sich jemand wirklich die Mühe macht, objektiv nachzuforschen, wie denn nun die Wirklichkeit aussieht. In dieser Ausgabe gehen die Münchner Tourismus- und Sozialwissenschaftler Dr. H. Jürgen Kagelmann und Dr. Walter Kiefl der Frage auf den Grund, ob Reisen und Urlaub gegen Niedergeschlagenheit und depressive Stimmungen helfen.
Mythos: Urlaub und Reisen helfen gegen Niedergeschlagenheit und depressive Stimmungen.
Bereits der Gedanke an eine geplante oder bevorstehende Reise löst bei vielen Menschen Glücksgefühle und Stimmungsverbesserungen aus, was sich die Tourismuswerbung auch zunutze macht. Bilder von interessanten Sehenswürdigkeiten, attraktiven Landschaften im Sonnenlicht und schönen fröhlichen Menschen bei lustvollen Aktivitäten in einer aufregenden oder entspannten Atmosphäre verstärken nicht nur die Vorfreude auf den Urlaub, sondern tragen oft auch zu einer anhaltenden Steigerung des Wohlbefindens bei und helfen über Alltagsroutinen und manche trübe Tage hinweg.
Wenn dies offenbar bei einem Großteil der Bevölkerung der Fall ist, müsste die Aussicht auf einen bevorstehenden Urlaub bei dauerhaft seelisch belasteten und leidenden Menschen doch erst recht positive Wirkungen hervorbringen. So denken viele – aber stimmt das auch?
| Verreisen und Urlaub beinhalten Belastungen |
Fachleute teilen diese Ansicht aus mehreren Gründen nicht, denn „Urlaub machen“ ist auch für unbelastete, gesunde und psychisch stabile Menschen kein reines Vergnügen, sondern beinhaltet mehr oder weniger Mühe und Stress. Dieser beginnt bereits bei der Planung und Vorbereitung, setzt sich fort bei der Buchung von Flügen und Unterkünften und endet auch im besten Fall erst bei der glücklichen Rückkehr.
Für die meisten Menschen handelt es sich dabei um bewältigbare und oft sogar gerne angenommene Herausforderungen. Während aber Lebenskünstler manchen Missverständnissen, Pannen, Verspätungen und verpassten Anschlüssen sogar positive Seiten abgewinnen können, treten bei vielen von depressiven Verstimmungen und Niedergeschlagenheit Betroffenen – objektiv vielleicht übertriebene und unangemessene, aber subjektiv sehr reale – Ängste und Panikreaktionen auf, wenn etwas nicht ganz nach Plan verläuft. Darunter leiden nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch ihre Reisebegleiter, unbeteiligte Mitreisende und auch Dienstleister.
Für Menschen, die unter depressiven Verstimmungen oder gar einer ausgeprägten Depression leiden, überwiegen die vielfältigen realen oder auch nur vorgestellten Belastungen, da an die Stelle der wenn auch oft trostlosen Routine und des bedrückenden, aber wenigstens Sicherheit vermittelnden Zuhauses eine mehr oder weniger fremde Umgebung tritt, die – in ihren Vorstellungen – ein für sie kaum oder gar nicht zu bewältigendes Maß an Aktivität und Organisationsgeschick erfordert. Das bedeutet ein Mehr an Stress, Unsicherheit, Unruhe, Ratlosigkeit, Orientierungslosigkeit oder Konzentrationsschwierigkeiten – und oft auch noch mehr an Kontaktschwierigkeiten und damit Kontaktarmut. Häufig wächst dann auch das meist ohnehin vorhandene Bedürfnis nach Rückzug – aber was bleibt einer davon betroffenen Person außer einem unpersönlichen Hotelzimmer?
Da sitzt sie nun und leidet noch mehr als zu Hause, wo sie wenigstens noch einigen Liebhabereien nachgehen kann und nicht zu ungelegener Zeit vom Reinigungspersonal gestört wird. Die oft ringsherum professionell verbreitete „fröhliche“ Stimmung verstärkt die eigene Freudlosigkeit und das Gefühl der Fremdheit und des Ausgeschlossenseins nur noch. Auch Urlaubsbegleiter machen mitunter – wenn auch ungewollt – Druck und verstärken damit vorhandene Schuldgefühle, wenn nicht real, dann in der Eigenwahrnehmung. Wenn sich Betroffene dann trotzdem – zum Beispiel ihren Begleitpersonen zuliebe – überwinden und an irgendwelchen „lustvollen“ sportlichen oder geselligen Aktivitäten teilnehmen, kann das für sie in ihren Vorstellungen und auch in der Realität in einem Fiasko enden.
| Reise- und Urlaubsverbot für seelisch Leidende? |
Dies bedeutet jedoch nicht, dass Menschen, die unter Depressionen leiden, besser keinen Urlaub und keine Reise machen sollen, sondern nur, dass in solchen Fällen besonders auf die Möglichkeiten und Grenzen der davon Betroffenen geachtet werden muss. Zum einen ist es unbedingt zu empfehlen, vor einem geplanten Urlaub ärztlichen und psychologischen Rat einzuholen. Weiterhin sollte eine vertraute und geschulte Begleitperson als Ansprechpartner verfügbar sein.
Die Art des Urlaubs ist ebenfalls von Bedeutung: Ruhe, Beschaulichkeit, Stressfreiheit, Möglichkeiten zu künstlerischen Betätigungen unter Anleitung allein oder in Gruppen usw. sind für unter anhaltenden und/oder häufigen depressiven Zustände leidende Menschen im Allgemeinen sicher besser als Abenteuer, hektische Betriebsamkeit, risikoreiche Sportarten, ein aufregendes Nachtleben und (durch Sprachbarrieren verstärkte) Exotik, doch kommt es dabei natürlich auch auf die individuell vorhandenen Bedürfnisse und Fähigkeiten an. Wichtig ist, dass es am Urlaubsort beziehungsweise im Idealfall auch im Beherbergungsbetrieb geeignete niederschwellige Angebote für den häufig unter Niedergeschlagenheit und depressiven Verstimmungen leidenden Personenkreis gibt.
Gerade Wellnesshotels verfügen hier über ein großes und – etwa durch die Beschäftigung von Fachleuten – noch weiter ausbaufähiges Potenzial. Auch wenn sie nicht mit Kurkliniken konkurrieren können oder sollen, lässt sich zumindest in leichteren Fällen oder bei von exogenen Faktoren (zum Beispiel erzwungene berufliche Umorientierung, Verlust des Partners) verursachter anhaltender Niedergeschlagenheit durch geeignete Urlaubs- und Freizeitangebote eine Verbesserung der seelischen Befindlichkeit erreichen.