Teil 27 der Serie Text: Dr. H. Jürgen Kagelmann und Dr. Walter Kiefl
Immer wieder aufs Tapet gebracht werden Stereotypen und Mythen, die über Jahre und Jahrzehnte in der Tourismusbranche verbreitet werden, ohne dass sich jemand wirklich die Mühe macht, objektiv nachzuforschen, wie denn nun die Wirklichkeit aussieht. In dieser Ausgabe gehen die Münchner Tourismus- und Sozialwissenschaftler Dr. H. Jürgen Kagelmann und Dr. Walter Kiefl mehreren Fragen auf den Grund: Sie ergründen, ob Influencer wirklich verantwortlich sind für Reiseentscheidungen, ob tätowierte Menschen als störend empfunden werden und ob die männlichen oder weiblichen Namen von Wirbelstürmen tatsächlich Einfluss auf die Anzahl der Todesopfer bei einer derartigen Katastrophe haben.
Mythos: Influencer schaffen Reiseentscheidungen.
Manche lehnen Influencer und das, was sie tun und wie sie es tun, von Grund auf ab. Manche sind begeistert, weil sich hier anscheinend eine günstige und enorm wirkungsvolle Werbemöglichkeit gefunden hat, die sich vor allem an die Social Media-affinen Alters- und Persönlichkeitsgruppen wendet.
Insgesamt darf man wohl sagen, dass der Influencer-Hype zwar noch nicht vorbei ist, aber doch in den letzten Jahren ziemlich an Faszination verloren hat (wofür nicht zuletzt die protzige Selbstdarstellung so mancher „Beeinflusser“ beigetragen hat). Man ist aktuell vielfach etwas kritischer geworden und fragt sich, ob die lauten Versprechungen der Influencer-Community, man würde eine neue, ungeheuer wirkungsvolle Art der Beeinflussung gerade im Reisebereich kreiert haben, nicht doch etwas viel heiße Luft ist. Jedenfalls wird die Behauptung, Influencer seien das wirkungsvollste Mittel, um Reiseentscheidungen zu schaffen, infrage gestellt.
Eine ganz aktuelle Umfrage zeigt Erstaunliches: YouGov ermittelte, dass viele Verbraucher die bunten, paradiesischen, gut gelaunten Reisetipps, die ihnen das Internet bietet, nicht blind übernehmen, sondern kritischer sehen. Eine Umfrage unter 2090 Deutschen im Auftrag des Marketing-Spezialisten Epsilon hat ergeben, dass Social Media-Influencer weniger Einfluss auf die Urlaubsplanung haben als gedacht. Während sich ein Drittel der Befragten bei ihrem Reiseverhalten von Angehörigen und Freunden, 21 % von Reisebüros, 17 % von Reisemagazinen und Artikeln und 13 % von der Direktwerbung inspirieren lassen, beträgt der entsprechende Wert für Instagram und Youtube nur 8 %. Ob es nun die Plattheit der visuellen Präsentationen, die nervige Selbstdarstellung der Protagonisten, die nur noch Langeweile schaffende Wiederholung der immer gleichen Lobpreisungen ist, oder der Wunsch, lieber eine einigermaßen objektive Beratung und Bewertung von Reisezielen zu lesen und zu hören und objektivere Hinweise zur Urlaubsentscheidung angeboten zu bekommen – jedenfalls scheint diesen Untersuchungsergebnissen zufolge die „Goldene Zeit“ der ReiseInfluencer vorüber zu sein.
Reisebüros, die schon an der Sinnhaftigkeit ihrer Existenz gezweifelt haben, werden erfreut sein. Die Zielgruppe der Reiselustigen geht offenbar lieber dorthin, als dass sie irgendwelchen Influencern und ihren ebenso schönen wie übertriebenen Bildern vertraut. Und ganz wichtig: Die Meinungen und die Empfehlungen von Menschen, die einem nahe stehen – aus der Familie oder aus dem Freundeskreis – gelten eindeutig mehr als die Botschaft der Influencer. Das ist doch was.
Mythos: Ob ein Wirbelsturm einen männlichen oder weiblichen Namen trägt, hat keinen Einfluss auf die Anzahl der Todesopfer.
| Stürmische Zeiten |
In den vergangenen Jahren sind Wirbelstürme zu einem höchst besorgniserregenden Problem geworden, das seine Schlaglichter auch auf den Tourismus geworfen hat. Ein besonders schlimmes Beispiel war der Hurrikan „Katrina“, der 2005 die US-Bundesstaaten Florida, Louisiana, Mississippi, Alabama, Georgia und besonders stark die Großstadt New Orleans verwüstet hat. Abgesehen von allen anderen schlimmen Folgen wie die Flucht und Evakuierung von 1,3 Millionen Menschen und eine auf Wochen unbewohnte Region wurde dort auch der Tourismus um Jahre zurückgeworfen.
In der Öffentlichkeit setzte sich nicht zuletzt aufgrund der Wirkungen dieses Hurrikans der Eindruck fest, dass die mit weiblichen Vornamen belegten Wirbelstürme besonders gefährlich waren und sind. Dieses Phänomen war der Ausgangspunkt für eine aktuelle psychologische Studie an der Universität von Illinois über einen Einfluss der Namensgebung von Wirbelstürmen auf deren Wirkung, definiert als die Anzahl der dadurch verursachten Todesopfer. Die Versuchspersonen erhielten zunächst Listen mit dem Namen zukünftiger Wirbelstürme ohne irgendwelche weitere Informationen darüber. Sie wurden gebeten, deren Stärke einzuschätzen. Das Ergebnis war, dass Stürme mit männlichen Namen für stärker und verheerender gehalten wurden als solche mit weiblichen Namen. Im Gegensatz dazu hatten aber Analysen von fast 100 Hurrikans ergeben, dass bei den mit Frauennamen belegten Wirbelstürmen wie Helene, Maria, Irma oder Sandy mehr Tote zu beklagen waren als bei solchen mit Männernamen.
Da die Namensvergabe bei Wirbelstürmen lange vor deren Auftreten, also ohne weitere Kenntnisse ihrer Richtung und Stärke und ihres Zerstörungspotenzials erfolgt, hätte man eigentlich erwarten können, dass Namen keinerlei Auswirkungen auf die Todesfälle haben, das heißt, dass sich hinsichtlich ums Leben gekommener Menschen keine signifikanten Unterschiede zwischen „männlichen“ und „weiblichen“ Hurrikans feststellen lassen.
Die Erklärung dieses unerwarteten Ergebnisses hat mit dem Phänomen der „sich selbst zerstörenden Prophezeiung“ zu tun: Eine falsche beziehungsweise durch nichts begründete Annahme („männliche“ Wirbelstürme sind gefährlicher als „weibliche“) wird durch das daraus resultierende Verhalten potenziell Betroffener widerlegt, indem viele Menschen „weibliche“ Wirbelstürme und entsprechende Warnungen und Sicherheitsvorkehrungen weniger ernst nehmen und sich somit einem erhöhten Risiko aussetzen. Grund ist die – zumindest in diesem Fall – völlig irrationale und objektiv durch nichts gerechtfertigte Übertragung traditioneller geschlechtsspezifischer Stereotype (Frauen gelten vielfach immer noch als schwächer, passiver und weniger aggressiv als Männer) auf ein Naturereignis.
| Fazit |
Dieses Ergebnis zeigt, dass es problematisch sein kann, gefährliche Wetterphänomene mit Bezeichnungen zu versehen, die harmlos oder verniedlichend klingende Assoziationen hervorrufen können. Vernünftiger wäre es, zur Identifizierung von Wirbelstürmen künftig anstatt Vornamen zum Beispiel assoziationsfreie Buchstaben-Zahlen-Kombinationen zu verwenden.
Mythos: Tätowierte Menschen werden nicht mehr als störend empfunden.
| Tätowierungen im Fokus |
Tattoos (von „Tatau“ – polynesisch: „Wunden schlagen“) sind ein fast schon normaler Anblick, weil anscheinend immer mehr Menschen sich ein – mehr oder weniger großes, buntes, und geschmackvolles, auffälliges – Hautbild leisten. Nach neuesten Umfragedaten sollen weltweit fast 1,5 Milliarden Menschen, das heißt rund 19 % der Weltbevölkerung, tätowiert sein. Angaben aus dem Jahr 2023 zufolge betrug der Anteil der Tätowierten in Italien 48 %, in Schweden 47 % und in Deutschland 35 %. Solche Werte umfassen auch Personen, die sich – wie Künstler, Artisten oder Schauspieler – aus beruflichen Gründen haben tätowieren lassen, oder aus medizinisch-ästhetischen Gründen, etwa zur Überdeckung von Unfallnarben.
Offensichtlich hat der Anteil tätowierter Menschen in den zurückliegenden zehn bis zwölf Jahren zugenommen. Daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die Akzeptanz und Toleranz in der Bevölkerung gegenüber Tattooträgern zugenommen habe, scheint jedoch voreilig – zumal es auch offenen Widerstand gibt: Einige US-amerikanische Fluggesellschaften wie Spirit Airlines schließen solche Passagiere von der Beförderung aus, die nicht ihren rigiden Kleidervorschriften genügen oder tätowiert („body art“) sind.
Gegen Tätowierungen sprechen vor allem die damit einhergehenden gesundheitlichen Risiken und Belastungen. Durch die Nadel wird nicht nur die Haut als natürliche Barriere gegen Krankheitserreger und Schadstoffe überwunden, sondern es werden auch Stoffe eingespritzt, deren Langzeitwirkungen noch nicht ausreichend untersucht wurden. Hinzu kommt, dass viele Tattooträger nach einiger Zeit genug von ihrer körperlichen „Verschönerung“ haben und es – auch aufgrund allergischer Reaktionen – ein nachweisbar zunehmendes Interesse gibt, die „Verzierung“ wieder loszuwerden: Einer Umfrage des Ipsos-Instituts von 2019 zufolge gaben schon damals fast 70 % der Tätowierten an, ihre Tätowierung zu bereuen.
Neuerdings wird diskutiert, dass auch Einstellungen und Reaktionen des überwiegend nicht-tätowierten Teiles der Bevölkerung dazu beitragen, den Anteil tätowierter Personen zu begrenzen. So hat eine neuere – allerdings nicht repräsentative – Studie der Universität der Bundeswehr in Hamburg ergeben, dass Menschen ohne Tattoos von anderen als attraktiver wahrgenommen werden als Menschen mit Tattoos. Den 487 Befragten wurden dabei Fotos von nicht tätowierten und unterschiedlich stark tätowierten männlichen und weiblichen Personen vorgelegt, wobei geometrische und von Tieren inspirierte Muster (jedoch ohne Schrift und religiöse oder politische Symbole und Botschaften) verwendet wurden. Dabei hat es sich gezeigt, dass völlig untätowierte Menschen durchwegs am günstigsten und extrem tätowierte Menschen am ungünstigsten beurteilt wurden – dies sogar von jüngeren Befragten und Befragten, die selbst Tätowierungen trugen.
Der Leiterin dieser Studie, der Psychologin Selina Weiler, zufolge verdeutlicht dieses Ergebnis die nach wie vor starke Bindung an traditionelle Schönheitsideale, die den natürlichen Körper bevorzugen, und spiegelt damit die kulturelle Ablehnung extrem sichtbarer Tätowierungen wider.
Einer 2024 in Deutschland durchgeführten Befragung des Instituts für Demoskopie in Allensbach zufolge variiert die Beliebtheit von Tätowierungen unter anderem mit Geschlechtszugehörigkeit, Alter und formaler Bildung. Insgesamt gaben 13 % der Probanden an, tätowiert zu sein und 21 % an Tätowierungen Gefallen zu finden. Bei den 16- bis 29-Jährigen betrug der Anteil der Tätowierten 24 %, bei den über 60-Jährigen dagegen nur 3 %. Personen mit Hochschulreife waren seltener tätowiert (14 %) als solche mit Mittlerer Reife (29 %) und Hauptschulabschluss (33 %). Bei den Männern war der Anteil der Tätowierten mit 18 % deutlich geringer als bei den Frauen mit 30 %. Während nur 20 % der Befragten aus den alten Bundesländern angaben, tätowiert zu sein, war der entsprechende Anteil in den neuen Bundesländern mit 41 % mehr als doppelt so hoch.
Die Annahme, dass es in unserer heutigen „aufgeklärten“, „toleranten“ oder „gleichgültigen“ Gesellschaft niemanden mehr stört, wenn andere tätowiert sind, gilt offenbar nicht. Ein traditionelles oder natürliches Erscheinungsbild scheint immer noch – oder schon wieder – attraktiver, zumal Tätowierungen häufig nicht allein aus ästhetischen Gründen abgelehnt, sondern auch aufgrund der damit verbunden traditionellen Assoziationen mit Rebellion und einem Außenseiterstatus oder als Manifestationen von Exhibitionismus und Narzissmus gewertet werden.
Ähnliches gilt wohl auch für „Piercing“, das heißt das Durchstechen der Haut (zum Beispiel Lippen, Nase, Augenbrauen, Zunge, Brustwarzen etc.) zum Anbringen von Schmuck. Abgesehen von den auch hier bestehenden gesundheitlichen Risiken (wie zum Beispiel Allergien durch Nickel oder Entzündungsgefahren) lösen derartige Anblicke nicht selten Abscheu und Ekel aus, wecken sie doch Assoziationen unter anderem an Masochismus, Schmerzen, Folter und Sklaverei. So verwundert es nicht, dass sich bei einer 2017 durchgeführten Befragung von 1028 Erwachsenen nur 21 % der Frauen und 8 % der Männer eindeutig für Piercing ausgesprochen haben (Quelle: Statista 2017).
| Fazit |
Solche Ergebnisse sollten auch der Dienstleistungsbranche, vor allem Hotellerie und Gastronomie zu denken geben. Da Kunden beziehungsweise Gäste mehrheitlich lieber „normal-schöne“ Menschen um sich haben als Gesichtstätowierte, ist das ein starkes Argument für Hoteliers und Gaststättenbetreiber, stark tätowierten und gepiercten Angestellten eher zurückhaltend zu begegnen. Zwar sind Bestimmungen, die den Arbeitnehmern Tätowierungen und Piercing untersagen, in der Regel unwirksam, sofern sich aus solchen „Verschönerungen“ keine Gefährdungen für Sicherheit und Gesundheit der Betroffenen sowie für Dritte ergeben, doch können unter bestimmten Bedingungen und in Einzelfällen entsprechende Auflagen (zum Beispiel großflächige Tattoos durch Kleidung zu verbergen) gemacht werden. Die Schwierigkeit, qualifiziertes Personal zu finden, ist allerdings eine andere Sache …