Teil 26 der Serie Text: Dr. H. Jürgen Kagelmann und Dr. Walter Kiefl
Immer wieder aufs Tapet gebracht werden Stereotypen und Mythen, die über Jahre und Jahrzehnte in der Tourismusbranche verbreitet werden, ohne dass sich jemand wirklich die Mühe macht, objektiv nachzuforschen, wie denn nun die Wirklichkeit aussieht. In dieser Ausgabe gehen die Münchner Tourismus- und Sozialwissenschaftler Dr. H. Jürgen Kagelmann und Dr. Walter Kiefl der Frage auf den Grund, ob sich der ausufernde Party- und Sauftourismus mit verschärften Gesetzen eindämmen lässt.
Mythos: Mit verschärften Gesetzen lässt sich der ausufernde Party- und Sauftourismus eindämmen.
Eines der Themen, die in diesem Jahr die Gemüter besonders erhitzen, ist der sogenannte Sauf- oder Exzesstourismus in einigen touristischen Ballungszentren wie beispielsweise auf Mallorca. Dem schon seit vielen Jahren thematisierten Phänomen „Ballermann“ soll nun nach dem Willen (nicht nur) zahlreicher davon betroffener Einheimischer durch verschärfte Gesetze der Garaus gemacht werden.
Dass dieses Thema gerade in Deutschland viel Aufmerksamkeit erhält, hat damit zu tun, dass Mallorca seit Jahrzehnten als Lieblingsziel der Deutschen gilt (rund 40 % aller ausländischen Touristen kommen aus Deutschland) und sich deutsche Touristen sowohl unter den Verursachern als auch den Leidtragenden (zum Beispiel Erholung suchende ältere Urlauber) befinden. Zu den vielfach fotografisch dokumentierten und medial aufbereiteten Exzessen aufgrund von übermäßigem Alkoholgenuss gehören vor allem:
- Das sogenannte „Balconing“ (mitunter mit Todesfolge): Stark angetrunkene Touristen (überproportional aus Großbritannien) springen als Mutprobe vom Hotelbalkon in den Pool. Die Strafe für diesen lebensgefährlichen Unsinn wurde inzwischen auf 36.000 Euro erhöht.
- Exzessiver Konsum von Drogen und Alkohol in der Öffentlichkeit
- Kriminelles Verhalten, besonders Vergewaltigungen
- Sexuelle Freizügigkeit und promiskuitives Verhalten unter Alkoholeinfluss
- Exhibitionistisches Verhalten von stark angetrunkenen Männern und Frauen in Gruppen
- Gefährdung der Verkehrssicherheit durch verbotene Auto- und Motorradrennen
- Vandalismus und andere destruktive Aktionen, besonders in Hotels
- Aggressionen gegenüber Ordnungskräften (Polizei, Wachpersonal) oder Mitarbeitern von Fluggesellschaften
- Übernachten am Strand (auch wegen gestiegener Preise), Verschmutzung, Pöbeleien und Lärm
Derartige in zunehmender Häufigkeit auftretende asoziale und kriminelle Verhaltensweisen sind in vielen vom Massentourismus (Overtourism) betroffenen Regionen zu beobachten, nicht nur in Spanien. Besonders dort regt sich aber inzwischen ein bisher noch diffuser Widerstand gegen den überbordenden Tourismus etwa durch Demonstrationen vieler Einheimischer. Sie lassen sich sowohl als subjektives Unbehagen gegenüber dem Massentourismus begreifen als auch als Protest gegen die objektiv feststellbaren direkten und indirekten negativen Auswirkungen des Tourismus auf die allgemeinen Lebensbedingungen (Verteuerung der Lebenshaltungskosten, Verknappung des Wohnraums durch illegales Vermieten an Urlauber etc.).
Gerade auf Mallorca geht die Kritik an den negativen Tourismusfolgen mit der speziellen Ablehnung des „Sauftourismus“ ineinander über. Warum dieses Thema derzeit so viel Aufmerksamkeit findet (und weiterhin finden wird), hat aber auch in den touristischen Entsenderländern – vor allem in Deutschland – mit „Fremdscham“ zu tun: Der ordentliche Tourist kann sich auf diese Weise von den „Proleten“ am Ballermann und an vergleichbaren Zentren abgrenzen und damit als besserer Mensch fühlen.
| Initiativen |
Im Frühjahr 2024 haben die Behörden auf Mallorca verkündet, die Ausschreitungen der Touristen, die die Insel nur wegen alkoholischer Gelage (Sangria-Eimer-Säufer) aufsuchen, endlich in den Griff bekommen zu wollen. Dafür drohen dann Geldstrafen von 1500 bis 3000 Euro. In den meisten Medien wurden diese Absicht sowie die geplanten Sanktionen begrüßt. Über die Erfolge der neuen Maßnahmen liegen bis jetzt noch keine Erkenntnisse vor. Bei vergleichbaren Initiativen in anderen Ländern hat es sich aber gezeigt, dass bestimmte „harte“ Restriktionen im Lauf der Zeit immer mehr abgemildert wurden.
| Zweifel am Sinn und an der Wirksamkeit von Gegenmaßnahmen |
Als Argumente gegen neue Initiativen wurden angeführt:
- Nur Symbolhandeln: Solche Ankündigungen dienen vor allem dazu, die über die häufigen Exzesse mit Recht aufgebrachte Bevölkerung zu beruhigen.
- Bisherige Erfahrungen: Bereits in früheren Jahren hat es auf Mallorca (und anderswo) ähnliche Kampagnen gegen unerwünschte Tourismusfolgen gegeben, die sich als ziemlich nutzlos erwiesen haben. Sollen derartige Maßnahmen jetzt erfolgreicher sein, nur weil inzwischen die Überzeugung allgemein geteilt wird, dass das Maß nun voll ist?
- Wirkungen: Reichen die bisher vorliegenden Daten überhaupt aus, um von einer rapiden Zunahme der Exzesse zu sprechen oder handelt es sich bei der erneuten Thematisierung nur um eine (auch durch Medienberichte bewirkte) erhöhte Sensibilität dafür? Korrekterweise müsste man zwischen absoluter und relativer Zunahme differenzieren: Eine enorm angestiegene Besucherfrequenz – wie sie für Mallorca zutrifft – müsste sich auch in einer entsprechend angestiegener Zahl der Exzesse niederschlagen. Mit andern Worten: Um begründet von einer Zunahme des negativen Touristenverhaltens auszugehen, müsste die entsprechende Steigerungsrate die der Besucher signifikant übersteigen. Dazu liegen bisher keine entsprechenden statistischen Angaben vor.
- Kontrollaufwand: Um das unerwünschte Verhalten zu sanktionieren und damit wirksam einzudämmen, bedarf es eines erheblichen ausgebauten Kontrollapparats (Aufstellung einer großen, gut ausgebildeten und ausgerüsteten Polizeitruppe und eine zügig arbeitende Justiz), das heißt, großer personelle finanzieller und organisatorischer Anstrengungen. Gelegentliche Polizeikontrollen am Strand reichen jedenfalls nicht aus.
- Unbeabsichtigte Nebenwirkungen: Auch die massive Verteuerung von Alkohol wäre nicht so wirksam, wie es zunächst scheint. Eine in diesem Zusammenhang angeregte Verteuerung der günstigen Basis-Flugtarife für Mallorca würde nicht nur die Gruppe der überproportional häufig an Exzessen beteiligten Jugendlichen treffen, sondern auch viele sozial schlechter gestellte Menschen, die mit den Exzessen nichts zu tun haben.
- Nutznießer: Die skizzierten Maßnahmen und Beschränkungen finden nicht nur Zustimmung, da ein nicht unerheblicher Anteil der Einheimischen (Gastronomie, Beherbergungsbetriebe, private Vermieter, Taxi- und Busunternehmer, Geschäftsinhaber) direkt vom Sauftourismus profitiert. Dazu der Betreiber eines großen Strandlokals: „Der Ballermann steht für Freiheit. Es gehört gewissermaßen dazu, sich daneben zu benehmen.“
Wandert diese Problemgruppe ab, fehlt den Wirten und anderen daran Verdienenden Geld. Hinzu kommt, dass der Ballermann auch kostenlose Werbung für Mallorca macht – nicht nur für die dafür affinen Gruppen, sondern auch für Menschen, die nur neugierig sind oder den skizzierten Phänomenen sogar kritisch gegenüberstehen um danach genüsslich Ekel und Empörung zu äußern – vergleichbar mit den Zuschauern bestimmter fragwürdiger TV-Serien. - Ursachen: Bei der Frage nach den Ursachen des Ballermann-Phänomens sind vor allem zwei Gründe von Bedeutung:
Sozial unerwünschtes und provokatives Verhalten als Entwicklungs- und Durchgangsstadium und die Funktion sogenannter „Ventilsitten“: Die Jugendzeit ist entwicklungspsychologisch eine Durchgangsphase, in der die Betroffenen – nicht mehr Kind und noch nicht Erwachsener – nach Orten und Gelegenheiten suchen, verschiedene Verhaltensweise und Rollen auszuprobieren, um eine eigene Identität zu finden. Dies beinhaltet eine mehr oder weniger bewusste Abgrenzung zur Kultur und Lebensweise der Erwachsenen und äußert sich häufig in Provokationen. Dazu gehört auch die Demonstration von Verhaltensweisen und Vorlieben, die Erwachsenen als primitiv und dumm erscheinen (übermäßiger Alkohol- und Drogenkonsum, bewusst schlampige oder auffallende Kleidung, Faszination sozialer Außenseiter und Exoten, ideologische Radikalisierung, …). Der Wunsch dies (auch) außerhalb der sozialen Kontrolle durch Eltern, Lehrer, ältere Kollegen usw. ausdrücken und leben zu können und das Vorhandensein von auch für bescheidenere Budgets erreichbaren attraktiven Orten prädestiniert Ziele wie Mallorca zu einem Mekka dieser Alterskategorie, zumal sich dort auch reichlich Gelegenheiten für Kontakte zu Gleichaltrigen bieten. Auf diese Weise kommt es zur Bildung von attraktiven, durch einen geringen Grad von Verbindlichkeit charakterisierten Pseudo-Gruppen, die ohne große Vorbedingungen Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft erfüllen. Dazu gehören auch Rituale wie gemeinsam aus einem Eimer zu trinken und (besonders für männliche Jugendliche) möglichst viel Alkohol bis hin zum Koma zu konsumieren. Wenn so etwas offiziell verboten wird, erhöht das oft noch den Reiz, wobei es darauf ankommt, sich nicht erwischen zu lassen.
Die für viele jugendliche Mallorca-Urlauber typischen Verhaltensweisen sind nicht einzigartig, sondern finden sich etwa auch beim Münchner Oktoberfest oder bei den berüchtigten US-amerkanischen Frühlingsferien (Spring Break), besonders in Dayton Beach in Florida, aber auch in Mexico und in der Karibik.
| Der Party- und Sauftourismus als Ventilsitte |
Der Party- und Sauftourismus vieler Jugendlicher lässt sich auch als Ventilsitte begreifen, als (teilweise) institutionalisierter Ausweg für sonst im Interesse eines reibungslosen gesellschaftlichen Miteinanders unterdrückte und verdrängte Bedürfnisse. Zu dafür vorgesehenen Zeiten (etwa Karneval) beziehungsweise an bestimmten Orten (zum Beispiel Ballermann) dürfen diese relativ sanktionsfrei ausgelebt werden. Indem auf diese Weise gesellschaftlicher Druck gemildert ist, leisten sie einen Beitrag zur Aufrechterhaltung und Stabilität gesellschaftlicher Normen und Werte. Umgekehrt würde eine zu starke Beschränkung solcher Auswege das Potenzial sozialer Konflikte erhöhen. Insofern ließe sich Stätten wie dem Ballermann in gewisser Weise sogar eine positive soziale Wirkung zuschreiben.
| „Qualitäts-“ statt Sauftourismus? |
Sollte es tatsächlich gelingen, den Party- und Sauftourismus am derzeitigen Standort zu verdrängen, würde er deswegen nicht enden, sondern – nach dem St. Florians-Prinzip – anderswo hinziehen. Die betroffenen Einheimischen auf Mallorca wären die Plage dann zwar los, aber andere hätten das Nachsehen – und den Profit.
In diesem Zusammenhang fällt häufig auch das Stichwort vom „Qualitätstourismus“: Die massenhaft anreisenden oft ziemlich unbedarften trinkfreudigen Jugendlichen mit relativ geringen Pro-Kopf-Ausgaben würden mittelfristig durch weniger, aber dafür wesentlich vermögendere Touristen ersetzt werden, die bereit sind, für „gehobene“ touristische Angebote viel Geld auszugeben. Solche Prozesse sozialer Verdrängung (Gentrifizierung) haben zum Beispiel Marbella und St. Tropez geprägt – nicht unbedingt zum Vorteil der ansässigen Bevölkerung und ihrer Werte und Traditionen. Profiteure sind Immobilienmakler, Inhaber teurer Hotels und Restaurants, Anbieter von Luxuswaren oder Besitzer von Golfplätzen. Eine solche Entwicklung würde auch zu anderen negativen Veränderungen führen: in ökologischer Hinsicht etwa zu einem immensen Wasserverbrauch für Golfplätze – um nur ein Beispiel anzuführen.
| Fazit |
Verbote und neue Gesetze allein – vor allem bei geringer Sanktionswahrscheinlichkeit – sind ungeeignet, den Party- und Sauftourismus auf Mallorca wirksam einzudämmen weil:
- Ihre Durchsetzung mit einem großen personellen, finanziellen und organisatorischen Aufwand verbunden ist.
- Ein nicht unerheblicher Teil der Einheimischen vom Sauftourismus profitiert.
- Die im Jugendlichenalter typischen entwicklungsbedingten und teilweise auch asozialen Bedürfnisse und Verhaltensweisen sich dann andere – und vermutlich noch problematischere – Ventile suchen werden.